21. Das Familienerbstück

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„Beliar sei mit dir!“

Raschid blickte von seinem Schreibtisch auf. In der Ladentüre, unter Urgroßvaters Schwert, stand ein Mann in einem schlichten Kaftan, das Haar unter seinem Fes etwas fettig vom Schweiß eines langen Tages. Er legte die braune Wüstenscavengerfeder beiseite und eilte hinter die Theke. Eigentlich hätte sein Sohn dort stehen und sich um die Kundschaft kümmern sollen. Doch er musste jetzt ohne Machmud auskommen.

„Sei mir gegrüßt, sei mir gegrüßt, Sohn der weiten Reisen! Was kann ich für dich tun?“

„Etwas zur Stärkung, Vater der Gastfreundschaft. Ich bin eben erst in der Mutter aller Städte eingetroffen. Die Reise war anstrengend.“

„Das glaube ich. Du kommst spät.“ Draußen war bereits die Dunkelheit angebrochen. Die Öllampe auf Raschids Schreibtisch warf ein flackerndes Licht über seinen Laden und ließ die Möbel und die Gestalten der beiden Männer als grotesk verzerrte und tanzende Schatten an den Wänden tanzen. Er hatte mit keinem Kunden mehr gerechnet, darum hatte er geglaubt, sich in Ruhe der Inventur widmen zu können.

Während er dem Gast auftischte, was noch an Reis und Linsen und Kalbfleisch übrig war, ihm auch eine Schale mit Datteln brachte, machte dieser es sich bequem. „Unser Karawanenführer hat mit uns einen Umweg gemacht. Aber es soll mir ein gutes Omen sein, dass ich die heiligste aller Städte erreiche, nachdem Beliar seinen kühlenden Schleier über sie gehüllt hat, und nicht unter dem Schein von Innos‘ sengendem Fluch.“

„Du kommst von Norden?“ Der Dialekt verriet seinen Gast.

„Aus Braga. Ich habe eine lange Reise hinter mir. Und eine gefährliche. Wir haben den Umweg auf uns genommen, um den Räubern zu entgehen, sind nicht direkt von Ben Sala hierher gezogen, sondern erst ein Stück weit in die Wüste hinein.“

„Das war vielleicht nicht nötig. Orbasan überfällt meist Handelskarawanen, keine Pilgerzüge.“ 

„Nein, nein, nicht dieser Orbasan. Ich habe von ihm gehört. Ein gefährlicher Räuber soll er sein. Den Herrn der Wüste nennen sie ihn im Ben Hasha. Aber unser Karawanenführer hat dasselbe wie du gesagt.“ Der Pilger brach von dem Fladenbrot, das Raschid ihm nun auf den Tisch gelegt hatte, und nutzte es als Schaufel, um etwas Reis und Linsen in seinen Mund zu befördern. Sein Blick ruhte auf dem Schwert, das an der Wand über der Tür hing. „Nomaden. Nomaden treiben auf dem Weg ihr Unwesen.“

Raschid kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. „Nomaden würden sich nicht so dicht an Bakaresh heranwagen. Hat man den Weg von Lago bis Ben Sala erst einmal hinter sich gebracht, hat man von ihnen nichts mehr zu befürchten. Es sind nur einige Räuber. Aus ihren eigenen Sippen verstoßen. Getrieben von ihrem Hass auf Beliar und seine Diener. Sie fliehen ins Innere der Wüste, sobald Bakareshs Assassinen herannahen. Selbst die Sklavenjäger fürchten und meiden sie.“

Doch sein Gast schüttelte den Kopf. „Nein, es sind nicht nur ein paar Räuber. Es ist eine ganze Sippe von Nomaden! Dutzende Krieger. Die Beni Sinikar, sagte unser Karawanenführer. Sie sind auf dem Kriegsfuß!“ 

„Das hat er euch eingeredet, um euch Angst zu machen und mehr Gold für den Umweg abzunehmen. Gib acht, Sohn der Arglosigkeit, in Bakaresh gibt es viele, die unbedarfte Pilger ausnehmen.“ Die Nomaden wurden wieder gejagt, seit Zuben zurückgekehrt war und die Assassinen ihre myrtanischen Besatzer vertrieben hatten. Immer tiefer waren sie in den letzten Jahren ins Innere der Wüste zurückgedrängt worden. Und doch hatten sie sich nicht gewehrt. Und wie hätten sie dies auch tun sollen? Sie waren wenige, ausgerüstet mit schlechten, zusammengestohlenen Waffen, ihre Wassermagier waren nie aus dem Norden zurückgekehrt. Sie würden sich nicht einmal an Lago heranwagen. Ganz gewiss nicht in die Nähe des mächtigen Bakaresh.

Der Pilger starrte beim Essen weiterhin auf das Schwert. Seine Neugier löste bald seine Zunge: „Ich habe noch nie so eine Waffe gesehen, Vater der Wunder.“

Sofort schwoll Raschids Brust an und seine Lippen weiteten sich zu einem Lächeln. Die Klinge seines Urgroßvaters war sein ganzer Stolz. In Bakaresh wusste gewiss jeder von seinem Erbstück. Genau deshalb hatte er gerne Pilger und Kaufmänner und andere Reisende zu Gast, denn er wurde nie müde, seine Geschichte zu erzählen.

„Das ist ein Schwert aus Nordmar“, raunte er.

„Bei Beliar! Eine Waffe der Barbaren?“ Nun starrte der Fremde mit doppeltem Interesse auf das Schmuckstück.

Raschid nickte stolz. „Eine Waffe aus magischem Erz! Selbst in Ben Sala findest du keine solchen Meister der Schmiedekunst wie in den Bergen von Nordmar. Siehst du“, er wies auf den runden Schild an der Wand, „dieser Schild stammt auch von den Nordmännern. Stell dir den Schnee vor, der im Winter der höchsten Gipfel des Ben Hasha bedeckt – in Nordmar bedeckt er das ganze Land, zu jeder Jahreszeit.“

„Bist du dort gewesen, Sohn der weiten Reise?“

„Nein, doch mein Urgroßvater. Fadlan war sein Name. Er war ein weitgereister, gebildeter Mann. Er hat an der Seite der Nordmarer gekämpft, der stärksten und mutigsten Krieger der Welt.“

„Gegen wen kämpften sie?“ 

„Oh gegen ein großes Übel.“ Raschid senkte die Stimme. „Damals gab es eine Sippe unter den Nordmarern, die üble Dschinn verehrte. Räuber, ärger als alle Nomaden. Sie bauten Schiffe und fuhren damit weit, weit in den Süden von ihrer Küste. Selbst hierher nach Bakaresh sind sie gekommen und haben es geplündert.“

„Bei Beliar! Die heilige Stadt!“

„Das war, bevor der Kalif den Glauben zu predigen anfing. Zur Zeit des alten schwachen Sultans. Sie waren wie ein Wüstenwind. Sie fielen über die Stadt her, töteten viele Männer, raubten Gold und Frauen, und fuhren wieder davon, so rasch sie gekommen waren. Diese Männer waren so üble Räuber, dass sie sich den Zorn ihres eigenen Volkes zuzogen. Aber sie wurden schließlich besiegt. Von meinem Urgroßvater und seinen Gefährten.“

„Eine Erzklinge…“, murmelte sein Gast. „Dieses Schwert muss ein Vermögen wert sein!“

Raschid lachte. „Oh ja, ich wette, es gibt in ganz Varant keine zweite. Aschnu, der wohlhabendste Händler der Stadt, hat mir eine Unsumme für mein Schwert geboten. Sogar der Tempel hat Interesse daran. Aber meine bescheidenen Geschäfte laufen gut, seit wieder viele Pilger in die Stadt kommen und der Handel aufblüht. Ich warte darauf, dass in einigen Jahren endlich der Hafen wieder aufgebaut ist, gewiss werden dann auch endlich wieder Schiffe von den Südlichen Inseln kommen. Mein Erbstück verkaufe ich so bald nicht!“

Raschid war noch etwas müde, als er am nächsten Morgen dem alten Stadttor zuging. Durch das Gespräch mit seinem Gast hatte er die Inventur später erst beenden können, als geplant, und hatte sich deshalb auch erst später zu Bett begeben. Dennoch war er im Morgengrauen bereits aufgestanden und hatte sich angekleidet.

Es war klug, wenn man in Varant seine Besorgungen am Morgen oder am Abend verrichtete. Noch stand Innos‘ allsehendes Auge nicht so hoch. Und noch wehte eine kühle Brise vom Meer her über Bakaresh, begleitet vom sanften eintönigen Rauschen der Wellen. Aber nicht nur die Aussicht auf die spätere Mittagshitze trieb ihn, sondern auch die auf seine Kundschaft. Er musste bald öffnen. Gerne hätte er sogar jetzt schon geöffnet. Aber er konnte sich ja nicht zerteilen. Machmuds Hilfe fehlte ihm jeden Tag. Er tröstete sich, dass sein Sohn jetzt, da er sich den Assassinen angeschlossen hatte und nach Ishtar gegangen war, ihm hoffentlich bald Geld würde senden können. Vielleicht könnte er sich künftig einen Sklaven anschaffen, der den Laden für ihn würde führen können.

Etwas war anders an diesem Morgen. Die Straßen kamen Raschid voller vor. Gewiss, in Bakaresh, der Stadt des großen Tempels, herrschte auch morgens schon geschäftiges Treiben. Händler aus Mora Sul, Pilger aus dem ganzen Land, Einheimische, Adepten aus dem Tempel, alles strömte schon früh auf den Markt. Aber heute waren die Gespräche aufgeregter, die Gesichter gezeichnet von Verwirrung oder Sorge. Mit jeder Ecke, um die er schritt, mit jeder neuen Gruppe aufgeregt schnatternder Menschen, die er passierte, wurde auch Raschid angespannter. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte.

Als er den Turm des Throns passiert hatte und auf den Ausgang der Stadt zubog, stockte er: Vor ihm drängte sich ein ganzes Knäuel aufgeregter Menschen, laute Rufe übertönten einander, die Assassinen der Stadtwache und selbst der Tempelwache hielten die Menge mit ihren Speeren zurück und versuchten für Ordnung zu sorgen. 

Rasch fand sich Raschid inmitten des Haufens wieder. Wortfetzen drangen an seine Ohren, ohne dass er ihnen einen rechten Sinn abgewinnen konnte, Leute rempelten ihn an, eine alte Frau trug ein Huhn in ihren Armen, das sich flatternd und gackernd und federnlassend zu befreien versuchte. 

Mit einem Mal fand sich Raschid von Angesicht zu Angesicht mit Burak, einem seiner Handelspartner. Eben ihn hatte er neben einigen weiteren heute Morgen in der Oase vor der Stadt aufsuchen wollen, um neue Vorräte für seinen Laden zu kaufen.

„Was tust du hier in der Stadt?“, rief er überrascht aus.

„Raschid, bei Beliar!“ Burak packte ihn bei den Oberarmen und schüttelte ihn. „Die Nomaden! Die Nomaden!“

„Ich verstehe nicht…“

„Sie haben die Oase überfallen!“

„Räuber haben sich an die Oase herangewagt?“

„Nicht nur ein paar Räuber! Die Beni Sinikar! Die ganze Sippe! Sie kamen aus der Wüste, ehe der Morgen graute. Da waren Krieger aus dem Norden bei ihnen. Und ein Zauberer! Sie hatten einen Zauberer bei sich! Einen Wassermagier! Sie haben die Oase eingenommen. Krieg, Krieg, die Nomaden sind mit uns im Krieg!“

Es brauchte etwas, ehe Raschid recht verstand. Ehe ihm recht aufging, was das, was Burak da sagte, bedeutete. Die fruchtbare Oase. Von deren Früchten ganz Bakaresh lebte. Und nicht zuletzt auch sein Geschäft. Die Nomaden hatten sie mit einem einzigen Streich dort getroffen, wo sie am verwundbarsten waren. Und mit einem Mal war er sich nicht mehr so sicher, ob er seine Worte vom Vorabend nicht bald schon würde zurücknehmen müssen.