14. Spuren im Schnee

- 0:01

Ruth blickte zum Himmel hinauf. Der Schneefall hatte weiter an Intensität zugenommen. Bald konnte sie die schroffen Berge Nordmars nur noch schemenhaft erahnen. Ein kalter Wind pfiff lautstark durch die Schluchten und ließ die Tannen unter schweren Böen ächzen. Eine Strähne ihrer rotbraunen Haare flog ihr ins Gesicht und erschwerte zusätzlich ihre Sicht. Sie kniff die Augen zusammen und starrte in die weißgraue Welt in der Hoffnung den Pfad, den sie gekommen waren, weiterhin zu erkennen. Doch ihre angestrengten jungen Augen versagten ihr den Dienst und zu allem Übel gesellte sich allmählich auch die kalte Nacht herein. Ihre letzten Fackeln waren aufgebraucht und so war es ihr auch nicht mehr möglich die Fußspuren im Schnee auszumachen, die sie für Abdrücke menschlichen Schuhwerkes gehalten hatte. Spuren, die bald unter frischem Schnee für immer vergraben blieben. Diesen Spuren waren sie schon den halben Tag gefolgt, in der Hoffnung an deren Ende in die Zivilisation zurückzufinden. Ruth schlotterte, doch es lag weniger an der weißen Kälte, denn an der Furcht sich hier erneut zu verlaufen. Nordmar ohne einen ortskundigen Führer zu bereisen war schon gefährlich genug, doch mit Egan an ihrer Seite glich das Vorhaben einem wahren Innosfahrtskommando.

Sie atmete die kalte Luft tief ein, mit einem leisen Seufzer wieder aus und starrte in den Dunst. „Jetzt geht es mir genau wie dir, Großväterchen. Doch ich darf es mir nicht anmerken lassen, wie sehr ich mich fürchte. Du brauchst mich doch. Du hast doch nur mich. Und ich habe nur noch dich“, waren erste Gedanken, die Ruth klar vernehmen mochte. Sie zog Egan noch fester an sich heran und versuchte, so beruhigend wie irgendwie möglich zu klingen: „Komm weiter. Komm und halt dich weiter an mir fest, wir müssten bald angekommen sein. Nur noch ein paar mehr Schritte.“ Ob sie sich selbst oder Egan zu beruhigen versuchte, wussten wohl nur die Götter. Der alte Mann ging gebückt und stütze sich an seinem Gehstock an der einen und an seiner Enkelin an der anderen Hand ab. So schaffte er es tatsächlich einen guten Tritt zu finden und die Beiden machten langsam, aber beständig einiges an Strecke gut. Angespannt hob er seinen Kopf und sprach: „Ruth, Liebes. Das Heulen. Es wird lauter.“ „Nur der Wind, Großväterchen. Ein Sturm zieht über die Berge. Lass uns rasch weiterziehen“, entgegnete Ruth. Egan blieb stehen: „Ich meine das Heulen im Sturm, meine liebe Ruth. Du weißt, was das bedeutet. Ich bestehe darauf, dass du deine jungen, schnellen Beine in die Hände nimmst und ohne mich rennst, wenn es so weit sein sollte. Du hast mir dein Wort gegeben.“ „So weit kommt es aber nicht und jetzt rasch weiter mit dir“, widersprach die junge Frau und zog Egan weiter. Ihre Sicht war mittlerweile auf vielleicht 20 Schritt begrenzt. Fast blind stapften die beiden durch den Schnee. Ab und an kamen sie an eingeschneiten Sträuchern und kargen Tannen vorbei und Ruth kratze sich das Gesicht an den Ästen. Stöhnend blieb sie stehen und fasste sich an die von der Kälte gerötete Wange. Wieder starrte sie in den Dunst. Das Heulen wurde tatsächlich lauter und so versuchte sie, unter größter Anstrengung den alten Mann schnellen Schrittes mit sich zu ziehen.

Plötzlich stolperte Egan und beide fielen mit einem Krachen in den Schnee. Die dicken Bisonfelle, die sie vor zwei Tagen bei den Jägern des Wolfclans abgetauscht hatten, als sie diese unerwartet auf ihrem Weg trafen, hielten die Beiden nicht nur warm, sondern glücklicherweise auch nach Stürzen weitestgehend unversehrt. Aus Gold machten sich die Nordmänner nicht viel, doch konnte Ruth schweren Herzens ihre letzten Habseligkeiten aus der verlorenen Heimat eintauschen, um nicht frieren zu müssen. Alles bis auf Egans wertvolles Erinnerungsstück. Letzteres wollte sie ihm nicht auch noch wegnehmen müssen. 

Ruth stand auf und wollte sich gerade daran machen, Egan auf die Beine zu helfen, als sie einen Schatten im Schnee erkannte, der sich geschickt und rasch auf sie zubewegte. Wie angewurzelt stand sie da und umklammerte die Hände ihres Großvaters mit festem Druck. War das ein Eiswolf? Oder noch Schlimmeres? Hatte eine der grausamen Bestien des Nordens die Beiden nun doch aufgespürt? Als der schneeweiße Hirsch dann aus dem dichten Schneetreiben auf sie zukam, erschrak sich dieser mindestens genauso wie die beiden Menschen über den unerwarteten Anblick und galoppierte eilig von Dannen. Danach herrschte eine kurze Stille. 

Ruth begann zu weinen und zu schluchzen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Was hatten sie sich nur dabei gedacht, im Kloster von Nordmar Schutz finden zu wollen? Am Ende der Welt. Ja, dieser Ort war wohl noch frei und weit entfernt von all der Zerstörung durch den Krieg und ja, sie hatte von den Gefahren des Nordens gehört, aber dass es so schwer werden sollte, hatte sie sich nicht vorstellen können. „Zieht immer nach Norden, immer weiter ins Gebirge, bis ihr den Rücken der Berge erreicht. Und bleibt bloß auf der Straße. Es ist ein weiter Weg, aber, so Innos es will, werdet ihr es erreichen“, hatte ihnen der verwundete Soldat noch am Tag ihres Aufbruchs empfohlen. An jenem Morgen war der Flüchtlingszug in den Wäldern bereits auf dutzende Menschen angewachsen und jedem war klar, dass der Proviant zur Neige ging. Ruth war sich mittlerweile gewiss, dass der Vorschlag ins Kloster zu ziehen nur ein Vorwand war, um die Beiden loszuwerden. Wer, außer ihr, wollte sich schon inmitten des Krieges einem alten, schwachen Greis annehmen und ihn durchfüttern müssen? Womöglich war das Kloster damit tatsächlich die letzte Option für eine sichere Bleibe und so gingen die Beiden das Wagnis ein.

Egan hatte sich mittlerweile wieder hochgerappelt und umklammerte seinem Gehstock: „Klage nicht, Kindchen. Auf Regen folgt doch stehts der Sonnenschein. Wir sind doch schon so weit gekommen. Der Herr Innos meint es wohl gut mit uns, warum sollte er uns jetzt noch im Stich lassen?“ Ruth rang sich ein Lächeln ab und versuchte, sich zu sammeln. Ihr Großvater war sein ganzes Leben für sie da gewesen, selbst als ihm das Augenlicht allmählich erloschen war. Daher hatte sie sich geschworen, jetzt, da Beide im Krieg alles verloren hatten, für ihn da zu sein. Sich ihres Schwures gewiss, hakte sie bei Egan unter und die Beiden setzen ihren Marsch fort. Als sie ihren Weg im Dunste der Nacht eine Weile fortgesetzt hatten, erreichten sie eine Passage zwischen zwei Felswänden und Ruth meinte einen Weg zu erkennen. „Allen Göttern sei Dank“, dachte sie sich und beteuerte Egan erneut jetzt nicht stehen zu bleiben. Zwischen den Felsen peitschte der Wind den Schnee nicht so unerbittlich und ihre Sicht verbesserte sich merklich. Sie blickte an den Felsen nach oben und erhaschte eine Seilbrücke, welche über die Schlucht gespannt zu sein schien. „Großväterchen, da ist eine Brücke! Jetzt kann es nicht mehr weit sein“, freute sie sich.

Ihre Augen folgten dem Weg und am Ende der Schlucht erkannte sie in der Ferne ein Leuchten. Da hielt sie Egan an und versuchte, zu erkennen, was sie dort ausgemacht haben könnte. Das Leuchten schien sich zu bewegen und größer zu werden. War das ein Feuer? Während sich Unbehagen bei ihr breit machte, verstummte für einen kurzen Moment der Wind. Ein dumpfes Schlagen erklang. Die nächste Böe fegte durch die Schlucht, während das Leuchten größer wurde. Bumm! Bumm! Das Schlagen war diesmal deutlich besser zu hören. Egan und Ruth kannten dieses dumpfe Schlagen nur zu gut, ein ferner Klang, der sich so tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, dass sie ihn immer wieder erkennen würden.

Orktrommeln. Ruth zögerte keine Sekunde, packte Egan und zog ihn eilig zwischen die Hecken, die da am Wegesrand der Witterung trotzten, um sich bäuchlings in den Schnee zu werfen und regungslos liegen zu bleiben. Der orkische Trupp marschierte, angeführt von einem Trommler, die Schlucht empor und die Fackeln dieser Krieger erleuchteten den Weg. 

Nur einen kleinen Augenblick, nachdem die beiden Menschen ins Gestrüpp geeilt waren, stapften jetzt schwere Krieger mit breiten Rüstungen und großen Hackbeilen durch den Schnee. Kaum drei Meter von den beiden Menschen in ihrem Versteck entfernt dröhnte die Trommel ihr unerbittliches Lied. Ruth machte sich nicht die Mühe, die Orks zu zählen, aber sie war sich sicher, dass dies kein einfacher Spähtrupp war, denn dafür waren es zu viele. Während die Beiden mit angehaltenem Atem ausharrten, bemerkte einer der Orks ungewöhnliche Spuren auf dem Weg. Spuren, die zu klein für einen Ork waren, aber auch nicht zu den Fußspuren eines Nordmannes passten. War das ein Wolf? Nein. Ein Hirsch? Auch nicht. Der Ork senkte seine Fackel über den schneebedeckten Boden. Da waren fünf dicht nebeneinander liegende kleine Abdrücke, wobei vier davon wie kleine Schuhabdrücke und einer wie von einem Stab aussahen. Menschen! Der Ork stieß einen markanten Schrei aus und der Trupp blieb stehen. Ruth konnte aus der Hecke gerade so erkennen, wie drei weitere Orks sich ihre Spur ansahen und in einer Sprache, die sie nicht verstand, zu diskutieren schienen. Die übrigen Krieger starrten in den Dunst und kurz glaubte Ruth, ihr Blick traf auf die grimmigen Augen einer der Kreaturen, und ihr Herz begann förmlich zu rasen. Während sie sich bemühte, regungslos dazuliegen, konnte sie deutlich spüren, dass Egan neben ihr leise zitterte und damit an der Hecke rüttelte. Gleich würden sie entdeckt sein. Ruth bekam Panik und musste ihre Hände gegen ihren Mund drücken, um nicht aufzuschreien. Doch die Orks kamen wohl zu der Erkenntnis, dass es sich nicht lohnen sollte, den fremdartigen Spuren im Schnee mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und setzen ihren Marsch fort. Kurze Zeit darauf waren die Trommeln in der Ferne verhallt. 

Eine gefühlte Ewigkeit blieben die beiden Menschen mucks Mäuschen still liegen und lauschten dem kalten Wind. Sie hatten nochmal Glück gehabt. „Ruth, meine Zehen sind so kalt. Wir müssen weitermachen“, entschied Egan energisch und krabbelte auf allen Vieren aus dem Dickicht und schüttelte sich den Schnee ab. Seine Enkelin tat es ihm gleich. Wenn sie nicht bald endlich ankommen würden, dann würde ihr Glück sicher aufgebraucht sein. Also hakte sie sich bei ihrem alten Großvater unter und die Beiden setzten ihre Reise ins Ungewisse fort. Als der Schneefall aufhörte und die Sicht aufklarte, konnte Ruth endlich den Weg in der aufgehenden Sonne ausmachen. Sie folgten dem Pfad noch ein wenig und tatsächlich, am Ende der Schlucht sah sie auf dem Rücken der Felsen Hütten stehen.

In der Stille des Morgens konnte Sivert seinen Augen kaum trauen, als er sah, wer sich ihm dort näherte. Er eilte den beiden Neuankömmlingen entgegen und half Ruth dabei, den vor Kälte bibbernden Egan ins Dorf zu bringen. „Hier setzt euch ans Feuer und wärmt euch erst mal auf. Ich stehe hier seit dreizehn Wintern Wache, aber einen blinden Greis und ein unbewaffnetes junges Weib hat es vor euch noch nie gegeben. Wie habt ihr das nur geschafft? Innos muss wahrlich mit euch gewesen sein. Willkommen im Feuerclan, Flachländer.“

Autor: Dr.Gothic