23. Der Vogel und der Schakal

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„Sag‘, Selim, ist es noch weit bis Bakaresh?“

„Nein, Herrin. Wir sind an den Ruinen vorüber. Das heißt, wir haben mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt.“

Meltem seufzte. Ihre zarten Finger griffen in die Schale in ihrem Schoß und führten noch etwas Lokum zu ihrem Mund. Bald würden diese Finger Aschnu mit Lokum füttern.

Aber nein, dafür hat er seine Sklavinnen. Das Gesicht werden ihm diese Finger zerkratzen, wenn er auch nur daran denkt, sich von mir bedienen zu lassen.

Sie schloss ihre Augen – nicht dass sie irgendetwas gesehen hätte außer den Vorhängen ihrer Sänfte – und konzentrierte sich auf das sanfte Schwanken, auf Jamilas lieblichen Gesang und auf den Rosengeschmack, der sich in ihrem Mund ausbreitete.

Du hast alles, was dein Herz nur begehren kann“, hatte Vater gesagt, „und als Aschnus Frau wirst du noch mehr haben.“

Aber ihr Herz begehrte nicht nach den Köstlichkeiten in den Schalen um sie her. Nicht nach Lokum oder Feigen oder Datteln oder gerösteten Mandeln oder Granatäpfeln. Es begehrte auch nicht nach den kostbaren Geschmeiden, die ihren schlanken Hals zierten, nach den Smaragden und Saphiren, die gold- und silberumrahmt an ihren Ohren hingen. Noch begehrte es nach der Seide, die ihre zarte Haut umschmeichelte.

Es begehrte nach Freiheit.

Nun, und vielleicht nach noch mehr… Was war aller Schmuck der Welt wert, wenn sie wie Jamila in einem goldenen Käfig gehalten wurde und niemand sie sehen konnte?

Aschnu wird mich sehen.

Aber Aschnu war alt. Und fett und langweilig und nur an seinen Geschäften interessiert obendrein, hatte sie gehört.

Eher noch wollte ich Selims Frau werden. Das ist wenigstens ein schmucker Mann, wenn er auch ein armer Karawanentreiber ist.

Aber wäre Aschnu auch schön anzusehen wie ein Prinz aus dem Märchen, sie wollte trotzdem nicht seine Frau werden! Nicht sein Vogel im goldenen Käfig. Nicht wie Jamila, die vor ihr hinter ihren Gittern saß, um sie mit ihrem Gesang und ihrem bunten Gefieder zu erfreuen.

„Selim?“, fragte sie, „ist das letzte Stück Weges gefährlich?“ Sie wollte nicht in Bakaresh anlangen. Aber doch wollte sie auch nicht von Sandcrawlern gefressen werden.

„Es hat seine eigenen Gefahren, Herrin“, drang die Stimme des Karawanentreibers von draußen durch ihre Vorhänge. Und wie stets klang sie heiter, unbeschwert, ja fast ein wenig belustigt. Vielleicht war es diese Heiterkeit, derentwegen sie Selim Baruch unter all den Männern, die ihr Vater gedungen hatte, um sie von Mora Sul nach Bakaresh zu bringen, sogleich am liebsten gewonnen und die halbe Reise mit ihm geplaudert hatte.

„Noch mehr Schakale?“ Die Ruinenfelder waren voll dieser Tiere. Sie hatten den Weg eines größeren Rudels gekreuzt. Meltem hatte durch die Vorhänge gespäht, als sie die Rufe der Männer gehört und gespürt hatte, wie ihre Sänfte abrupt anhielt. Aber die Männer hatten Pfeile nach den Raubtieren geschossen und diese hatten sich rasch zurückgezogen und es nicht gewagt, eine solch große Karawane anzugreifen.

„Hmm“, machte Selim Baruch, „lass es mich so sagen… Wilde Bestien gibt es hier jenseits der Ruinenfelder weniger. Aber wir kommen in das Revier einer anderen Art von Schakalen.“

„Du sprichst von Räubern, nicht wahr?“ Meltems Herz pochte ein wenig schneller bei diesem Gedanken. „Ist es wahr, was man über den Herrn der Wüste sagt?“

Von draußen drang Selims vergnügtes Lachen zu ihr. „Ist nicht Zuben der Herr der Wüste?“

„Der Kalif ist der Herr der Städte. Aber ich habe sagen hören, in der Wüste herrscht ein anderer Herr. Ein Räuber, vor dem selbst die Nomaden zittern.“

„Du sprichst von Orbasan.“

„So ist es wahr!“, stieß sie aus und krallte die Finger in eines ihrer reich bestickten Kissen. Sie musste den Impuls zurückkämpfen, den Kopf zu den Vorhängen herauszustecken.

„Ich glaube nicht, dass du etwas von dem Räuber Orbasan zu befürchten hast, Herrin.“

„Du reist oft durch die Wüste, nicht wahr?“

„Ich verbringe mehr Zeit zwischen den Dünen als in den Städten, Herrin.“

„Und ist dir da dieser Räuber Orbasan schon einmal über den Weg gelaufen?“

Von draußen hörte sie Selim Baruch lachen. „Nein, Herrin, von mir selbst kann ich das nun gerade nicht behaupten. Aber vielen, denen ich kenne, lief er über den Weg.“

Meltem schwieg. Eher um etwas zu tun, denn aus echter Lust, griff sie wieder in die Schale mit ihrem Lokum. Eigentlich hing ihr die Süße inzwischen zum Halse heraus.

Wenn ich so weiter nasche, bin ich fett wie ein Oger, wenn wir in Bakaresh ankommen. Ha, vielleicht will mich Aschnu dann gar nicht mehr.

Aber ihre Gedanken blieben nicht lange bei ihrem Anverlobten. Nicht etwa, weil sie an ihn nicht denken wollte. Das wollte sie gewiss nicht, aber doch hatten ihre Gedanken schon die ganze Reise über um ihn und um ihre Zukunft gekreist. Denn das Denken und das Fühlen verstehen ja kein Nicht und kein Nein und man denkt nur umso mehr an dasjenige, wovon man mit Gewalt seine Gedanken abzulösen versucht. Was wirklich die Gedanken an eine Sache verschwinden lässt, das ist allein, wenn der Gedanke an eine andere Sache sie von der ersten ablenkt und auf sich zieht. Und so tat es nun der Räuber Orbasan.

Orbasan.

Ein Prickeln rann ihren Rücken herab. Sie hatte dann und wann Geschichten gehört über den Herrn der Wüste, der mit seinen Räubern die Karawanen im Ben Hasha überfiel, von Bakaresh bis Ben Erai. Aber da hatte sie ihnen kaum Gehör geschenkt. Flüchtige Bemerkungen von Geschäftspartnern ihres Vaters waren das gewesen, die über ihre Verluste geklagt hatten. Sie hatte sich darum nicht geschert. Das Ben Hasha war weit, weit weg von Mora Sul.

Doch nun war sie nicht mehr in Mora Sul. Und plötzlich hatte dieser Name Orbasan einen anderen Klang für sie. Geheimnisvoll und auch gefährlich. „Was, wenn er ihre Karawane wirklich überfallen würde?“, durchzuckte sie mit einem Male die Furcht.

„Selim?“

„Ja, Herrin?“

Die Stimme des Karawanenführers ließ sie sogleich wieder etwas ruhiger atmen. Es war doch etwas Seltsames um dieses Reisen in der Sänfte. Es war komfortabel, gewiss. Sie fühlte sich wie eines Sultans Tochter. Aber zugleich trennten die Vorhänge sie von aller Welt, wie es die Mauern von Vaters Haus stets getan hatten. Es war beinahe, als wäre sie ganz allein mit sich, Jamila als einzige Gesellschaft. Und die Außenwelt jenseits des Vorhanges war so weit weg und so unvorstellbar wie das Reich der Toten. Selim Baruchs Stimme von draußen hereinschallen zu hören, war da wie eine Vergewisserung, dass sie doch nicht allein war, dass es ein Da-Draußen wirklich gab und dass noch alles in Ordnung war.

Dennoch war ihre Furcht nicht ganz vergangen und musste sie ihre Frage stellen: „Was macht dich so sicher, dass der Räuber Orbasan uns nicht überfallen wird? Du weißt, wie reich diese Karawane ausgestattet ist. Wenn sie wüssten, wie reich meine Mitgift ist, die wir mit uns führen, würden sie uns gewiss überfallen. Wieso bist du also so sicher, dass es nicht geschehen wird?“

„Ich bin nicht sicher.“

„Aber du sagtest, ich hätte nichts zu befürchten.“

„Dessen bin ich sicher.“

Wie konnte seine Stimme so gelassen sein! Ja so fröhlich! „Aber werden sie uns nicht alle töten?“

Da erklang wieder Selims Lachen. „Verzeih, Herrin, ich hätte die Räuber wohl zuvor nicht Schakale nennen sollen. Diese Schakale sind anders als die anderen. Sie fressen kein Menschenfleisch, sondern nur Gold. Wer sich nicht wehrt, den werden sie gewiss nicht töten.“

„Aber…“ Meltem biss sich auf die Lippen. „Sie könnten uns trotzdem Gewalt antun. Es gibt andere Dinge, die einem unter Räubern geschehen können. Besonders einem Weibe…“

Zum ersten Male klang die Stimme Selim Baruchs ernst: „Ich habe Geschichten über Orbasan und die Weiber gehört. Es gibt dieser Geschichten einige, ich will es nicht verhehlen. Aber anders als im Harem Zubens habe ich nie gehört, dass eine der Frauen, die sein Lager teilten, eine Gefangene oder Sklavin gewesen wäre.“

Meltem war zu sehr in Gedanken bei dem Herrn der Wüste, um die Anklage gegen den anderen Herrn der Wüste recht zu bemerken, wenngleich sie doch ein schwerer Frevel war. „Aber ich habe Geschichten gehört über diesen Orbasan…“

„Etwa Geschichten, wie er Frauen ein Leid zugefügt habe?“

„Das nicht, aber…“ Und Meltem kramte in ihrem Gedächtnis, suchte sich der Gesprächsfetzen zu erinnern, die sie aufgeschnappt hatte. „Ich hörte, er hat vor einigen Monaten eine große Sklavenkarawane überfallen und alle Sklaven in die Wüste entkommen lassen. Der Händler war ruiniert! Er musste sich selbst in die Sklaverei verkaufen wegen seiner vielen Schulden.“

„Den Sklaven mag Orbasan nicht so schrecklich klingen, wenn du nur solche Geschichten über ihn zu erzählen hast, Herrin.“

„Aber der Händler!“

„Hätte ein ordentliches Handwerk lernen sollen, statt ein Menschenhändler zu werden, so wäre er nie in diese Lage gekommen.“

„Orbasan soll auch fünf Assassinen massakriert haben in der Nähe von Lago“, erinnerte sie sich.

Aber Selim Baruch erwiderte: „Solche Geschichten pflegen übertrieben zu werden, wenn sie nur oft genug weitererzählt werden. Ich hörte, er hätte nur zwei getötet und den drei übrigen nur Gold und Waffen genommen und sie davongejagt.“

„So hat er dennoch zwei Assassinen getötet!“, stieß sie aus.

„Gewiss, die ihn gejagt haben.“

„Weil er ein Räuber ist!“

„Das hat er mit dem rechten Herrn der Wüste gemeinsam.“

Meltem schlug die Hände vor den Mund und hätte sich beinahe an einer Handvoll Mandeln verschluckt. „Nennst du Zuben einen Räuber?“

„Raubt er nicht den Menschen Tribut?“

„Dafür hält er Beliars Zorn von uns fern!“, widersprach sie.

„Von wem? Von sich selbst und seinen Schwarzmagiern? Für die Sklaven tut er nichts. Und auch nicht für die schönen Vöglein, die in goldenen Käfigen eingesperrt sitzen.“

Diese Worte durchzuckten sie wie ein Blitz. Meltem wusste darauf nichts zu antworten, sie starrte nur auf den Käfig und auf Jamilas buntes Gefieder hinter den goldenen Stäben.

Selim Baruch aber fuhr fort: „Nein, Herrin, Orbasan mag ein Schakal sein, aber in Ishtar sitzt ein Löwe. Raubtiere sind sie beide. Und wenn es dem Löwen erlaubt ist, zu rauben und zu morden, so mag doch niemand dem Schakal sein kleines Bisschen Beute versagen. Gegen die Gefräßigkeit des Löwen kommt der Schakal nicht in Betracht.“

Sie schwieg eine Weile und sann über diese Worte nach. Aber lange Zeit verstrich nicht, ehe Selim Baruchs Stimme sie wieder aus ihren Gedanken riss.

„Es ist jetzt nicht mehr weit, Herrin. In der Ferne ragen die Palme der Oase vor Bakaresh auf. Dort will die Karawane nur kurz Halt machen und ihr Wasser auffrischen. Linker Hand beginnt das Ben Hasha und führt der Weg gen Ben Sala. Und geradeaus, jenseits der Oase, liegt Bakaresh. Wenn die Berge nicht wären, könntest du schon den Turm mit dem Thron Beliars sehen.“

Diese Worte schafften es sogar, sie den Räuber Orbasan vergessen zu machen. Bakaresh. Für sie war dieser Name fest mit einem anderen verknüpft: Aschnu. Und beim Gedanken an diesen Namen wurde ihr die Brust eng. Obgleich sie doch auch jetzt alles andere als frei war, schien ihr das Ende ihrer Freiheit gekommen. Wenige Stunden noch, dann würde sich der goldene Käfig für immer um sie schließen.

„Wir werden dann auch leb wohl sagen, nicht wahr, Selim?“

„Ja, Herrin, das werden wir.“

„Ich danke dir, dass du mir Gesellschaft geleistet hast auf dieser Reise. Ich wäre sonst ganz allein gewesen mit Jamila.“

„Oh ich danke dir, Herrin. Du hast mir ebenfalls die Reise angenehmer gemacht mit deiner Gesellschaft.“

Kurz zögerte sie, dann, während sie ihren Schleier vor ihr Gesicht zog, sprach sie ihn wieder an: „Selim?“

„Ja, Herrin?“

Statt eine Antwort zu sprechen, griff sie in ihre Schale mit Lokum. Dann teilte sie den Vorhang und steckte ihren Kopf heraus.

Kurz musste Meltem blinzeln, denn drinnen hatten Schatten und Zwielicht geherrscht, hier draußen aber schien hell und unerbittlich Innos‘ Fluch am Himmel.

Dann aber richteten ihre Augen sich auf Selim Baruch, der neben ihrer Sänfte einherschritt, leichtfüßig und beschwingt, eine Hand locker auf dem Knauf seines Säbels, um den Kopf ein Tuch gewickelt, um sich vor dem sengenden Feuer am Himmel zu schützen. Seine Haut war blass wie die eines Myrtaners, wenn auch die Sonne sie braungebrannt hatte. Und in seinem Ohr steckte ein goldener Ring. Er wandte ihr das Gesicht zu, als sie den Vorhang teilte, und blickte zu ihr empor. Wie durchdringend seine Augen blitzten! Und dieser Zug um seinen Mund – er passte genau zu dem Klang seiner Rede, schien unentwegt ein ironisches Lächeln anzudeuten.

„Hier“, sprach sie und näherte sich mit zwei spitzen Fingern seinem Gesicht. Er öffnete den Mund und lies es zu, dass sie das mit Rosenblättern garnierte Stück Lokum über seine Lippen schob.

Einen wie ihn würde ich lieber mit Lokum füttern als den dicken alten Aschnu mit seinem vielen Gold.

„Ich danke dir, Herrin, du bist sehr gütig“, sprach Selim mit einem Lächeln und neigte leicht sein Haupt.

Doch in eben jenem Moment erklang vom Ende der Karawane ein Schrei: „Räuber!“

Und ehe Meltem wusste, wie ihr geschah, da hatte Selim ihren Arm gepackt, den sie noch nicht ganz wieder zurückgezogen hatte, und riss daran, dass sie kopfüber aus ihrer Sänfte fiel.

Er fing sie auf, doch kurz wusste sie nicht, wo oben, wo unten war. Laute Rufe erschallten um sie her, Pfeile surrten durch die Luft, ihre Sänfte stürzte krachend zu Boden, als die Sklaven sie fallen ließen, Schwerter klirrten. Und dann erklang der lauteste Schrei von allen, direkt neben ihrem Ohr: „Stopp!“

Sie fühlte sich hochgerissen, einen Arm um sich gelegt, und dann war da etwas Kaltes und Hartes an ihrer Kehle. „Legt eure Waffen nieder, oder eure Herrin stirbt!“

Sie blinzelte und sah nun von allen Seiten die Räuber die Karawane umschwärmen. Schwer bewaffnet, die Gesichter vermummt, die einen in dunklem Leder, andere in den Gewändern von Nomaden, ja selbst einen Räuber in einer myrtanischen Soldatenrüstung erblickte sie.

Die Wachen, die ihr Vater bezahlt hatte, taten, wie ihnen befohlen. Sie schmissen ihre Waffen von sich. Und sogleich waren die Räuber bei ihnen, um ihnen die eigenen Waffen an die Kehle zu halten.

Als Selim Baruch seinen Blick über die ganze Karawane hatte schweifen lassen und gesehen hatte, dass niemand mehr den Räubern Widerstand leistete, da ließ er ab von Meltem. „Gib auf sie Acht!“, forderte er einen der Männer auf, an den er sie nicht unsanft weiterreichte. Sogleich schloss sich des Räubers Hand um ihren Arm wie ein Schraubstock.

Selim Baruch machte sich nun mit einigen anderen an den Wüstenrindern zu schaffen, die schwer mit ihrer Mitgift bepackt waren. Die Räuber schauten in Körbe und Kisten und machten Anstalten, die Rinder samt ihrem Gepäck davonzutreiben.

Meltem konnte nur wie gelähmt zusehen. Selbst ohne festgehalten zu werden, hätte sie sich wohl nicht vom Fleck gerührt. Zu groß waren Schock und Angst.

„Seht, was für ein schönes Kind“, hörte sie ein Flüstern dicht hinter sich.

„Mmm, wie viel Schätze sie auch dabeihaben mögen, das hier ist der größte, wenn ihr mich fragt“, antwortete ein anderer Räuber dicht neben ihr.

Und der, der sie festhielt, blickte mit gierigen Blicken an ihr hinauf und hinab, folgte mit den Augen den Rundungen ihres Körpers und leckte sich die Lippen. „Ein hübsches Vögelchen, das muss ich auch sagen.“

Was als Nächstes geschah, das steigerte ihren Horror noch:

Selim Baruch schritt nämlich an einer der entwaffneten Karawanenwachen vorbei, um das vorderste der Lasttiere zu inspizieren. Da riss sich die Wache von dem Räuber los, der hinter ihr stand und ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte, und stürzte sich auf Selim. Und plötzlich blitzte silbern etwas in ihrer Hand, das sie aus dem Ärmel gezogen haben musste.

Im letzten Augenblick wich der Angegriffene zur Seite, ergriff die Hand der Wache und rammte dieser den eigenen Dolch in den Magen, dass sie zu Boden stürzte und der Sand unter ihr sich rot färbte.

Meltem schrie entsetzt auf.

Selim Baruch aber herrschte den Räuber an, der hinter der Wache gestanden hatte: „Du willst mich wohl umbringen! Ordentlich durchsuchen solltet ihr sie, ob sie nicht noch irgendwo eine Waffe versteckt haben!“

Der Räuber schien untröstlich und entschuldigte sich viele tausend Mal, aber Selim machte eine wegwerfende Handbewegung und trat mit wenigen großen Schritten in die Mitte all der versammelten Menschen:

„Männer!“, rief er. „Heute haben wir reiche Beute gemacht! Die Mitgift der Meltem bint Suleyman für den Händler Aschnu ist unser! Ihr kennt unseren Freund Aschnu aus Bakaresh. Vor drei Wochen erst war er so gütig, uns eine vollbepackte Karawane mit kostbaren Teppichen und Tüchern vorbeizuschicken.“

Die umstehenden Räuber lachten und johlten. „Ein Hoch auf Aschnu!“, rief jemand.

Als diese Rufe abgeklungen waren, fuhr Selim fort: „Ihr Wachen – alle, die nicht so töricht sind wie euer Kamerad hier, der beschlossen hat, lieber die Geier zu füttern – ihr könnt nun davonrennen. Zur Oase ist es nicht mehr weit, wie ihr wisst. Das werdet ihr ohne Waffen und Wasser überleben. Ihr Sklaven – ihr könnt auch davonrennen. Wohin, das ist euch überlassen, aber ich würde euch empfehlen, nicht ebenfalls Richtung Bakaresh zu laufen. Wie ihr durchkommt, das müsst ihr selber sehen. Aber ihr könnt an euch nehmen, was diese Karawane an Vorräten und Waffen mit sich führte, die meinen und ich sind nur an dem Gold und den Edelsteinen interessiert! Apropos“, fügte er, nun in weniger lautem Tone hinzu, während die Wachen sich eilig davonmachten und die Sklaven sich auf deren zu Boden geworfene Waffen und die Lasttiere mit den Wasservorräten stürzten, und fixierte Meltem. Sie zuckte, als er langsam auf sie zuschritt und die Hand nach ihr ausstreckte.

„Gib mir deine Hand.“

Zitternd kam sie der Aufforderung nach und hob ihre Hand in die Höhe.

Der Räuber ergriff sie, nicht unsanft, und zog ihr einen nach dem anderen die mit bunten Edelsteinen besetzten Ringe von den Fingern, während er ihr unverwandt in die Augen starrte. „Du musst keine Angst haben“, raunte er, und wieder spielte ein Lächeln um seine Lippen. Er reichte die Ringe einem anderen Räuber, der neben ihn getreten war, und zog nun auch von ihrer anderen Hand die Ringe. Bis auf einen. „Deinen Verlobungsring nehme ich dir nicht“, sagte er und schaute sie dabei noch immer an. „Deine Verlobung soll niemand lösen als du selbst. Aber…“ Kurz wusste sie nicht, wie ihr geschah, als er die Hand nach ihrem Gesicht ausstreckte – doch er griff an diesem vorbei, in ihren Nacken, und als sie im nächsten Augenblick ihre mit Perlen und Diamanten besetzten Ketten von ihrem Hals fallen fühlte und er sie auffing, da wusste sie, was er gewollt hatte.

„Du heißt nicht Selim“, hauchte sie, die ihrerseits nicht den Blick von ihm lassen konnte. Die Worte waren ihrer Kehle entwichen, ohne dass sie nachgedacht hatte. Sie klangen ihr sogleich unheimlich dumm, denn sie hatte ja nur das Offensichtliche ausgesprochen.

Die Lippen des Mannes vor ihr kräuselten sich verschmitzt. „Das hast du richtig erkannt, schönes Vöglein. Man nennt mich den Herrn der Wüste. Ich bin der Räuber Orbasan.“ Kurz schaute er sie an und rührte sich nicht. Dann sprach er: „Ich möchte dich gerne einmal schauen, Herrin.“ Schon bewegte sich seine Hand wieder zu ihrem Gesicht. Und sanft nahm er ihr den Schleier ab, der ihr Antlitz verbarg. Es war das erste Mal, dass Selim – nein, Orbasan, der Räuber Orbasan war er! – ihr Gesicht erblickte.

Er blieb stumm in ihren Anblick versunken, bis jener Räuber, der sie festhielt, sprach: „Ein hübscher Fang, nicht wahr, Orbasan? Ich möchte gern an Aschnus Stelle treten.“

Aber da verengten sich die Augen des Räuberhauptmanns böse und sein Blick schoss von Meltem zu dem Räuber hinüber. „Lass sie los!“, herrschte er. „Und sieh dich vor, sonst kannst du an die Stelle von Aschnus Eunuchen sein.“

Der Räuber ließ von ihr, als wäre sie ein glühendes Eisen. Und auch die anderen wichen respektvoll einige Schritte zurück.

Doch da zog etwas andres Orbasans Aufmerksamkeit auf sich. Das aufgeregte Zwitschern, das aus der zu Boden gestürzten und zerbrochenen Sänfte drang. Er schritt hinüber, griff zwischen den Stoff der Vorhänge und zog schon bald einen goldenen Käfig daraus hervor, in dem Jamila wild hin und her flatterte. Der Vogel von den Südlichen Inseln wirkte etwas zerzaust, schien sich aber bei dem Sturz mehr erschrocken als verletzt zu haben.

„Armes Ding“, murmelte Orbasan. „Haben dich in solch einen engen Käfig gesperrt. Damit du für andre bist und nicht für dich. Nur schön anzuschauen und anzuhören sollst du sein, mehr nicht. Na, hab’ keine Angst vor mir, Vögelchen. Dieser Schakal ist eine andre Art von Raubtier, er frisst nur Gold und Edelsteine, hübschen kleinen Vöglein tut er nichts. Da – fliegt.“ Mit den letzten Worten hatte er die Tür des Käfigs geöffnet. Und Jamila hätte der Aufforderung wohl kaum bedurft, sondern entschlüpfte singend und trällernd in die Freiheit. Kurz war sie ein bunter farbenfroher Punkt, der höher und höher gen Himmel empor und dann in Richtung der Palmen der fernen Oase davonflog, dann konnte Meltem sie schon nicht mehr ausmachen im endlosen Blau über ihr.

„Hab‘ keine Angst“, beruhigte sie Orbasan, der nun wieder an sie herantrat. „Ich werde aufpassen, dass dir nichts geschieht. Ich bringe dich persönlich nach Bakaresh. Du wirst noch heute Abend sicher im Haus deines Verlobten sein.“

Mein Verlobter. In der letzten halben Stunde hatte sie die Welt jenseits dieser Karawane gänzlich vergessen. Nun erwachte sie wie aus einem Traume und besann sich nur langsam auf den Sinn seiner Worte. „Nein!“, rief sie dann aus. „Ich gehe nicht nach Bakaresh. Nicht zu Aschnu.“

„Komm.“ Sanft griff er nach ihrem Arm. „Es soll dir nichts geschehen unterwegs. Dafür verbürge ich mich. Du musst keine Angst haben.“

„Ich habe keine Angst vor dem Weg, ich habe Angst vor dem Ziel!“, schrie sie und riss sich von ihm los. Es war das erste Mal, dass sie laut wurde. Doch nun fuhr sie fort: „Meinen Vogel befreist du, aber mich willst du in einen Käfig sperren?“

„Im Käfig ist es sicher. Du magst eingesperrt sein, aber wenigstens sind deine Gitterstäbe von Gold. Und du wirst mit Lokum und Feigen und Granatäpfeln gespeist. Soll ich dich in die Wüste laufen lassen wie diese Sklaven? Die Hälfte von denen sind gefangene Nomaden, die kennen die Wüste, die finden ihre Sippen wieder. Dich fressen die Schakale, wenn du allein in die Wüste gehst.“

Für einen Augenblick zögerte sie. Sollte das ihre Wahl sein? Gefangen oder tot? Aber dann trat ein entschlossener Ausdruck in ihre sonst so liebreizenden Züge. „Ich weiß einen Schakal, der keine Vögel frisst.“

„Er frisst sie nicht, das ist wahr“, gab Orbasan ihr zu, „aber er hat auch kein Interesse, sich ein Vögelchen in einem Käfig zu halten.“

Aber nun war es an ihr, zu schmunzeln und zu lächeln, sie wusste selbst nicht, wie es über sie kam: „Ich will auch in keinem Käfig gehalten werden. – Ich will kein Vogel mehr sein. Ich will ein Schakal werden.“