Zärtlich strich Nereus über das uralte Papier des Folianten auf dem Tisch vor ihm. Dessen ausgetrocknete Fasern sogen dem Magier gierig das ölige Fett von Fingerspitzen. Beinahe liebevoll zeichnete er einzelne Lettern nach, die sich zu Worten reihten, welche Sätze formten, in deren hermetischen Doppeldeutigkeiten magisches Geheimwissen raunte. Arkane Bilder von feuerfressenden Löwen und goldenen Jungfrauen forderten einen eingeweihten Geist, um sich entschlüsseln zu lassen.
Für Nereus waren sie nichts Geringeres als zerebrale Mauern, die nur von wachem Verstand erstürmt werden konnten. Auf ihre Weise schwieriger einzunehmen als jede steinerne Festung. Unter seinen Berührungen veränderte sich der Stoff, der diese Mauern trug. An manchen Stellen versprödeten die Fasern, machten die Schrift unkenntlicher, wo er ihr nicht ohnehin Pigmente entnahm.
Was auch immer geschah, das altvordere Wissen dieses von Nereus behandelten Buches würde noch sicherer sein. Verzerrt und verborgen, unkenntlich gemacht. Doch im Prinzip noch immer vorhanden. Auch der wachste Geist unter den Orks würde es nicht vermögen diese Art Festung zu erstürmen, um sie sich anzueignen.
Sicherlich hätte er das Buch auch den Flammen übergeben können. Was wäre einfacher als das? Wissen vorzuenthalten, in dem man es völlig zerstörte. Simpel und effizient, die Unart der Kleingeister. So konnte nur vorgehen, wer die Mühen nicht achtete, auch nur das kleinste Quäntchen aus dem großen Fluss alles Wissens zu schöpfen. In ein Gefäß abzufüllen, damit es zur Verfügung steht. Was wäre dieses Buch anderes als ein solches Gefäß? Und was wäre ein Magier?
Ach, wie wünschte sich Nereus selbst so gut aufgehoben zu sein. Doch Vengards Mauern vermochten solches nicht zu leisten. Natürlich trafen seine Brüder emsig eigene Vorkehrung zum Schutz der Stadt. Erzmagier Karrypto ließ alles für den Ritus zur Erschaffung einer magischen Barriere zusammentragen. Sie sollte die Stadt zu einer unerreichbaren Insel im Meer der Orks machen. Vielleicht auch zu einem rettenden Floß. Nereus trug nur das Nötigste bei. Ihm ging die Hoffnung in den magischen Wall ab. Dabei war es nicht das erste Mal, dass man ihm eine Barriere als Ausweg vor der Vernichtung in Aussicht stellte.
Sein ganzes Dasein als Magier hatte Nereus dem Zweck unterworfen, mehr Wissen in sich aufzunehmen. Gleich aus welcher Untiefe des Flusses er es schöpfte. Manche seiner Brüder hielten es wie er, andere folgten strenger den Geboten des Ordens. Ohnehin galt Nereus den anderen Dienern Innos als Sonderling. Einzig sein altersweiser Mentor Catmaol war Nereus Bande zu seinen Mitmenschen. Der Alte war selbst dem geschmähten Wissen zugeneigt und studierte mit seinem Schützling gemeinsam die abgründigeren Seiten der Magie. So kam es, dass man beide, Catmaol und Nereus, unter den Verdacht der Häresie stellte. Eine Zeit lang beriet sich die Oberen, ob es nicht der weiseste Ratschluss sei, sie zur Verstärkung ihrer in der Barriere gefangenen Brüder zu entsenden. Die Zeiten waren bereits jener Art, dass man auch unrein gefüllte Gefäße nicht zerschlug, sondern anders nutze.
Doch das Schicksal drehte sich. Catmaol verging noch vor Antritt der Reise und wurde in der Krypta von Vengard bestattet und nach der Zeremonie lagen die Dinge anders. Eine solche Überfahrt war nicht mehr nötig. Stattdessen stand Nereus bald im Stab des Erzmagiers Karrypto und damit unter dessen fürsorglicher Aufsicht. Seine Aufgabe bestand nun darin, zu erahnen, welcher magischen Künste der Feind fähig war und wie man ihnen Einhalt gebot, noch bevor sie wirken konnten. Eine einsame Aufgabe, die sich fernab der Brüder erfüllen ließ, die sich mit praktischeren Fragen beschäftigten. Nereus war es recht. Selten genug musste er Karrypto Rechenschaft ablegen, die Aufmerksamkeit des Erzmagier war beim König gebunden.
Nereus begann damit sich in Vengard einzudenken wie in die Schriften, die er studierte. In seinem Kopf wurden Zinnen und Türme zu Aussagen, Mauern und Tore Absichten. Die Straßen der Stadt gerieten zu Formulierungen einer Sprache von Festhalten, Preisgeben und Zurücknehmen. Es war ein fiktiver Wettstreit, in dem man nur mutmaßte, dass auch der Feind im Begriff war, ihn zu führen. Wo Äxte und Schwerter klirren würden, würde auch die Schamanen ihre Winkelzüge ansetzen und die Magier es verhindern müssen. Anderenorts war schon Abscheuliches entfesselt worden, ohne auf angemessene Abwehr zu stoßen.
Nereus ließ sich einsickern in die Stadt, diesen Folianten aus Erde, Stein und Stahl. Mit Hilfe geschmähten Wissens legte er Abend für Abend seine fleischliche Hülle ab, um auch noch den verborgensten Winkel aufzusuchen und einzuplanen. Ein unzureichend gesetztes Komma im Text, das dem oberflächlichen Leser zum Schmutzfleck gemahnt.
Genauso einen Winkel fand er schließlich, als er in ätherischer Gestalt mit den schweigsamen Überesten Catmaols beriet. Es sind die Orte, die man zu kennen glaubt, welche einen überraschen. Der Anblick des Gewohnten verschleiert einem die Sicht auf das, was man nicht ohnehin bereits erwartet. Dort unten zwischen den seligen Toten bahnte sich ein Gang tief unter dem Allerheiligsten der Stadt hin zum Sitz der Macht. Er hatte die Schwachstelle ausgemacht, die unbedingt zu schließen war und das würde er auf seine eigene Weise vollbringen.
Gewissenhaft über viele Stunden lang, stach sich Nereus die Pigmente unter die Haut. Seine Arme wurden das Pergament für die Formeln. Der Magier begann sich den Folianten ähnlich zu fühlen. Für die Aufregung um sich herum hatte er keine Gedanken übrig. Die Trommeln, die wie Gewitter über die Stadtmauern schallten, hörte er nicht. Seine Brüder strebten hinauf zum Turm. Er ging ihnen aus dem Weg. Auch sie nahmen nicht wahr, wie er mit strebsamem Blick, ein Bündel auf der Schulter in die Keller verschwand.
Dort unten, in den Gängen würde er sich verändern, wie sich die Schrift unter seinen Fingern verändert hatte. Der Magier Nereus würde dort unten seine Aufgabe erfüllen, Sicherheit schaffen, aus dem Leben verzerrt, unkenntlich gemacht.
Autor: HerrFenrisWolf