19. Die Katakomben von Trelis

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„Dreißig Gold, wenn du dich in die untersten Gänge traust.“ 

Dreißig Gold! Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? „Mein verschissener Stiefel ist mehr wert als dreißig Gold“, zischte Alonso. Es war ein unwillkürlicher Ausstoß seines Unmuts gewesen, aber sogleich zuckte er zusammen, denn das Echo schien sein leises Murmeln vielfach verstärkt aus dem schwarzen Schlund zu ihm zurückzuwerfen, als welcher ihm das Ende der Treppe erschien. Und hatte im ersten Moment der bloße Laut selbst ihn erschreckt, weil er ihn so wenig erwartet hatte, so schauderte ihm sogleich darauf bei dem Gedanken, wer noch ihn gehört haben mochte.  

Oder was. 

Innerlich verwünschte er Frederigo. Er hatte ja nicht nur diese vermaledeite Herausforderung ausgesprochen, mit ihm hatte schon vor genau einem Jahr alles angefangen, wenn er es recht bedachte. Was für ein erhebender Tag war das gewesen! Was für eine Ehre! Der Graf persönlich hatte ihm den grünen Waffenrock eines Soldaten der Mark überreicht. „Ab heute dienst du meinem Haus mit deinem Arm und deinem Leben“, hatte er gesagt und Alonsos Brust hatte sich vor Stolz geschwellt, als Markgraf Heron feierlich den Finger erhoben und hinzugesetzt hatte: „Aber nicht nur das! Du dienst den Menschen der Westmark, deinen Landsleuten. Und indem du ihnen und meinem Geschlecht dienst, dienst du ganz Myrtana. Denn die Mark ist es, die die rechtschaffenen Menschen von Myrtana von den grausamen Söhnen der Wüste trennt, und Trelis allein steht zwischen ihnen und dem Rest des Reiches. Wenn sich die Assassinen je wieder erheben und wenn sie wieder in Myrtana einfallen sollten, dann wird Trelis wieder das Bollwerk sein, das dieses Reich beschützt, und dann wird es wieder an uns in der Mark sein, sie daran zu hindern, bis in Myrtanas Herz vorzustoßen. Es wird dann an dir sein, Alonso.“ Keine Predigt, die er angehört, kein göttlicher Segen, den er empfangen hatte, hatten je solch ein erhabenes Gefühl in ihm erzeugt. Und nie hatte er solch ein Prickeln durch seinen Leib dringen gespürt, auch das eine Mal nicht, als der Stier krank gewesen war und Vater ihn zum Dorf der Waldläufer geschickt hatte, eine Medizin zu holen, und als er dort ihrem Druiden gegenübergestanden hatte. 

Jetzt aber, als er die letzte Stufe hinab trat, verspürte er wieder ein Prickeln. Doch eines ganz anderer Art. Wie Gespenster, die ihre schaurigen Hände nach ihm ausstreckten, kamen ihm die riesigen schwarzen Schatten vor, die seine Fackel an die Wand des schmalen Ganges warf. Unstet und zuckend bewegten sie sich. Und für einige Augenblicke bannte ihr Anblick ihn, sodass er in ihn versunken dastand. Mit einem Male aber erwachte er wie aus einer Trance und riss sich angsterfüllt los. Waren es etwa wirklich Geister?, fragte er sich, während er von der Wand zurückwich, hatten sie ihn mit ihren Bewegungen hypnotisiert? Aber nein, Geister, so ein Altweiberaberglaube! Das Licht war zu schwach, und so lange auf die Wand zu starren, hatte seine Augen tränen lassen und seinen Schädel zum Brummen gebracht, das war alles. Langsam, und als wollten seine Beine ihm nicht gehorchen, setzte er sich in Bewegung, nachdem er sich vorgestellt hatte, wie Frederigo ihn auslachen würde. Und sogleich waren seine Gedanken wieder bei jenem Tag, dessen Jubiläum sie heute in der Tanzenden Fleischwanze gefeiert hatten. Frederigo war es gewesen, der ihn durch die Burg geführt hatte. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er Trelis betreten hatte. Er war schon mit kaputten Sensen zum Schmied geschickt worden und im kleinen Tempel der Burg zum Gottesdienst gewesen. Aber es war doch etwas ganz anderes gewesen, nun durch jene Feste geführt zu werden, auf die jeder Bewohner der Mark stolz war, als hätte er sie einst selbst errichtet, und das im Wissen, dass er sie fortan verteidigen würde. Er, der einfache Sohn eines Knechtes von den Höfen! Zum ersten Mal im Leben hatte er sich wie ein rechter Mann gefühlt. Aber die Flausen hatte Frederigo ihm gleich lachend ausgetrieben: „Glaub nicht, der grüne Rock macht dich zum Mann, Grünschnabel. – Hier in dem großen Gebäude hat unser Graf Heron seinen Thronsaal, aber das weißt du sicher. – Einen grünen Rock hat meine Schwester auch. Und wenn die Assassinen kommen, dann ist sogar auf die noch mehr Verlass als auf so einen halben Kerl wie dich. – Und hier, da geht’s in die Katakomben der Burg. Pass nur auf, da ist schon mancher reingegangen und nicht wieder rausgekommen. Wenn du da runter müsstest, würdest du gleich deinen schönen neuen grünen Rock vollpissen.“ Nachlässig und im Vorbeigehen hatte Frederigo ihm die Gebäude der Burg gewiesen. Und sein Atem hatte nach Wein gerochen. Alonso hatte seinen spöttischen Worten wenig Bedeutung beigemessen. Und doch hatten ihn die Katakomben von jenem Tage an verfolgt. 

Beinahe hätte er aufgeschrien vor Schreck, als etwas seinen Kopf streifte und an seinen Haaren hängenblieb. Aber sogleich schämte er sich seiner selbst. Es war ja nur eine Spinnwebe! Über den ganzen Gang hatte eine Spinne ihr Netz gespannt. Er suchte sich Mut zuzusprechen mit dem Gedanken, dass doch solche großen Spinnweben an den tiefsten und verlassensten Orten ganz absurd waren, konnten sich denn wirklich so viele Fliegen hier hinunter verirren? Aber nicht einmal ein Schmunzeln wollte ihm der Gedanke entlocken, vielmehr drängte sich nur ein anderer auf: Wenn er doch wenigstens seinen Helm mitgenommen hätte! 

Es hatte gar nicht lange gedauert, bis er, statt nur auf den Mauern oder an den Toren Wache zu stehen oder auf den Straßen seine Runden zu drehen, das erste Mal die Treppe unter das Haupthaus der Burg hinabgeschickt worden war. Und was war schon dabei gewesen? Es war ein Keller, mehr nicht. Etwas dunkel, etwas kühl, das war alles. Keine der Wachen wurde gerne eingeteilt, durch die Gänge hier unten zu patrouillieren, aber nicht aus Furcht, sondern weil es eine dröge und ungemütliche Sache war. Und besonders wichtig war es ihm auch nie erschienen. Gewiss, Trelis war reich. Aber welcher Dieb hätte schon gewagt, in seine tiefsten Tiefen vorzudringen? Und sowieso – hätten nicht Wachen oben auf dem Hof an der Kellertreppe genügt, alle Eindringlinge fernzuhalten? Aber wie dem auch sei, nie hatte er sich gefürchtet, wenn er durch die Korridore hier unten hatte schlurfen müssen, um Kisten und Fässer, Säcke und Truhen zu bewachen, in denen das Korn der vielen Höfe der Mark lagerte. 

Da! Ein Geräusch! Ein leises Kratzen oder Schaben war aus der Dunkelheit vor ihm gedrungen. Oder hatte er es sich nur eingebildet? Ja, ganz gewiss hatte er es sich nur eingebildet! – Jedenfalls versuchte er mit diesem Gedanken sein klopfendes Herz zu beruhigen, während er sich vorsichtig weitertastete, eine Hand stets wie haltsuchend an der Wand. Den Blick zu dieser hin bereute er sogleich. Er zuckte zusammen, denn diesmal glaubte er noch mehr tanzen zu sehen als nur den Schatten, den das Feuer warf. Seine freie Hand tastete an seinem Gürtel herum, aber obwohl er doch genau wusste, wo es hing, obwohl er doch so viele Male geübt hatte, es rasch zu ziehen, fanden seine Finger den Griff seines Schwertes nicht und fassten immer wieder daneben. Als sie sich schließlich doch darum schlossen, zögerte er aber, und anstatt es zu ziehen, blickte Alonso noch einmal auf die Wand vor ihm. Abermals schalt er sich ob seiner Schreckhaftigkeit. Es waren ja nur Bilder! Schriftzeichen, Figuren, Menschen, Tiere, er vermochte kaum noch etwas von ihnen auszumachen, und das lag wohl nicht nur am schwachen Licht seiner Fackel, sondern die Farbe war ergraut und abgebröckelt, sodass wohl selbst das hellste Sonnenlicht nur eine schwache Ahnung davon gegeben hätte, wie dieser Gang einmal ausgesehen haben mochte vor Jahrhunderten. Wie alt dieser Tunnel wohl war? Gewiss älter als Trelis selbst. 

Geschichten über die Katakomben der Burg hatte er freilich schon vor seiner Zeit bei der Wache gehört gehabt, ja bevor er überhaupt je einen Fuß in die Festung gesetzt hatte. Mütter in der Mark erzählten zum Einschlafen ihren Kindern davon und die Burgwachen erschreckten beim Wein in der Tanzenden Fleischwanze die Feldarbeiter damit, wie tief die Gänge unter der Burg bis ins Erdinnere reichten. „Manche sagen sogar, bis hinab in Beliars Reich!“, erinnerte er sich der Worte seiner Großmutter und konnte dabei wieder ihr tief zerfurchtes Gesicht vor sich sehen, das doch seine Augen schon vor vielen Jahren für immer geschlossen hatte. Altweiberaberglaube!, ermahnte er sich einmal mehr. Manches, was man sagte, mochte wahr sein: Die Gänge unter Trelis waren teils älter als die Burg selbst, Überreste längst vergangener Tage und früherer Bauwerke. Und die untersten Ebenen wurden kaum genutzt. Aber das hieß nicht, dass es hier spukte. Und so etwas wie einen Tunnel bis hinab in Beliars Reich, das gab es ohnehin nicht! 

Da war es wieder! Diesmal hatte er ganz deutlich ein Kratzen vernommen. Nein, es war unmöglich, das als Einbildung abzutun. Er hielt inne, zögerte. Er könnte doch einfach umkehren, sagte er sich. Er war doch tief genug vorgedrungen… Aber  nein, er musste weiter, bis zum Ende des Ganges! Es war eine Sache der Ehre. Eine Sache der Männlichkeit. Er würde Frederigo schon zeigen, dass er kein Feigling war. Gewiss waren es nur Ratten, die er gehört hatte. 

Und wenn es eine Riesenratte war? Er wusste, dass es auf Khorinis Ratten beinahe von der Größe eines Wolfes gab. Es hatte sich einmal eine dort auf ein Schiff geschlichen gehabt, das dann in Trelhaven angelegt hatte. Da war die Wache herbeigerufen worden und sie hatten die Ratte mit ihren Spießen umringt und totgestochen. Aber das war bei helllichtem Tage gewesen und sie waren fünf gewesen. Hier unten mochte er so einem Biest nicht begegnen… 

Ob wohl irgendein Mensch hier gewesen war, seit sie den alten Grafen beigesetzt hatten, der im Varantkrieg gefallen war? Da war Alonso noch nicht einmal geboren gewesen. Sicher, ein paar wenige schickte man auch in die tieferen Ebenen der Katakomben. Wo nicht mehr Weizen und Käse lagerten, sondern des Grafen guter Wein – und schließlich des Grafen Gold. Und wo der Kerker lag, in den die Grafen ihre Gefangenen sperrten. Aber Alonso stand erst zu kurz in gräflichen Diensten, als dass er schon einmal für die Wache dort unten, wo man Schätze und Verbrecher vor dem Licht des Tages verbarg, eingeteilt worden wäre. Und nun hatte er selbst diese Ebene längst passiert. Hier unten ruhten die Vorfahren ihres Grafen. Und wenn nicht gerade einer aus dem markgräflichen Geschlecht hier bestattet wurde, so kam wohl keine lebende Seele jemals hier hinab. 

Da war ein Durchgang. Den würde er noch passieren, dann würde er umdrehen. Ja, beschloss Alonso, so würde er es halten. Und dann sollten sie alle zu Beliar gehen. Er hatte es ihnen gezeigt! Ein Jahr bei der Wache hatte er heute Abend feiern wollen, nicht in irgendwelche verstaubten, fleischwanzenverseuchten Keller steigen! Er verwünschte Frederigo und seine Prahlerei. „Glaub nicht, dass du heute mehr Mann bist als vor einem Jahr!“, hatte der gelacht, irgendwann, als sie bei der dritten Falsche Wein gewesen waren. „Hast dir ein bisschen auf der Mauer die Beine in den Bauch gestanden, auf den Höfen nach dem Rechten gesehen, ein paar Goblins von der Landstraße gejagt. Was ist das schon? Ich habe gegen die Assassinen gekämpft damals im Krieg. Du warst ja noch nicht einmal in den Katakomben unter der Burg. In den richtigen, meine ich, nicht droben beim Lagerkeller, wo man nicht tiefer unter der Erde ist als in einem Ripperloch.“ 

„Wer wagt es, meine Ruhe zu stören? Wer wagt es, Beliars Dämon zu wecken?“ 

Die schreckliche Stimme, die ihm entgegendonnerte, als er über die Schwelle trat, fuhr ihm durch Mark und Bein. So groß war sein Schreck, dass er seine Fackel fallenließ. Sogleich erlosch sie. Aber nur einen winzigen Augenblick blieb es finster, dann leuchteten mit einem Male zwei schreckliche Augen vor ihm auf. Ihr Glimmen ließ ihn einen Schemen erkennen, groß und mit zwei langen krummen Hörnern auf dem bulligen Kopf. Alonso stieß einen Schrei wie eine aufgescheuchte Harpyie aus und fühlte eine warme Nässe seine Hose hinabkriechen. Für einen Moment stand er da wie gelähmt, und seine Beine wollten ihm einfach nicht gehorchen, so sehr er sie vom Boden loszureißen suchte, dann aber gab es kein Halten mehr. 

Die Flucht hinauf aus den Kellern von Trelis schien eine Ewigkeit zu dauern. Er rannte und stolperte durch die Dunkelheit, prallte gegen Wände, fiel auf Treppen hin, schürfte sich die Hände auf, stieß sich die Nase, er rannte in Sackgassen und vielleicht auch im Kreis und wähnte sich schon hoffnungslos verirrt, rannte aber dennoch weiter, wie sehr er sich auch hier unten verlieren mochte, denn immer glaubte er das Keuchen des Dämons direkt in seinem Nacken.  

Aber wie durch ein Wunder fand er doch an die Oberfläche zurück. Der blaue Nachthimmel, die zahllosen Sterne am Firmament, es schien ihm hell wie der Tag im Vergleich mit der Finsternis, aus der er gerade entkommen war. Keuchend brach er vor seinen Kameraden zusammen, die um die Treppe zum Keller herum standen und saßen und sich die Zeit mit weiterem Trinken und dem Singen unzüchtiger Lieder vertrieben hatten. Diese aber schienen so gar nicht aus der Ruhe gebracht von seinem aschfahlen Gesicht, seinen gehetzten Augen und seinen mit letzter Kraft aus schmerzender Brust gepressten Worten: „D-dämon!“ Sie lachten nur und lachten und lachten. 

Und dann lachte es auch hinter ihm. Ein Mann im gleichen grünen Waffenrock, wie er ihn trug, kam die Treppe hinaufgeschlendert. Er gab ein komisches Bild ab mit den beiden Schattenläuferhörnern und den beiden leuchtenden Kristallen darunter, die er auf seinem Helm angebracht hatte. Frederigo beugte sich zu ihm herab und klopfte ihm auf die Schulter. „Wacker, wacker, hast dich tatsächlich bis ganz nach unten getraut. Hast den Dämon aufgescheucht.“ Alonsos Kopf drehte sich und er hörte das Lachen der Umstehenden nur gedämpft und wie aus weiter Ferne. Er spürte, wie Frederigo ihm eine Flasche Wein in die Hand drückte. „Aber ein Mann wirst du doch erst, wenn du eines Tages mit einem Assassinen die Klinge kreuzt, Grünschnabel. Für jetzt bist du eben doch nur ein Milchbart, der sich in die Hosen macht.“ 

Ein Mann sollte Alonso an diesem Abend nicht mehr werden. Dazu gab ihm erst sein zweites Jubiläum bei der Wache Gelegenheit, als die Assassinen über den Pass gestürmt kamen und einer ihrer Pfeile ihn ein Auge kostete. 

Autor: Jünger des Xardas