#16: Propaganda Assassinen

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Komm, komm nur her in den kühlen Schatten! Ja, die Hitze der Sonne ist grausam und unerbittlich, nicht wahr? Das ist der Fluch Innos‘. Aber Beliar bietet seinen Segen all jenen, die ihn zu erkennen vermögen. Beliar ist es, durch den unser Volk leben und gedeihen kann.

Willst du wissen, wie es in Varant früher war? Bevor Zuben kam, um uns den wahren Glauben zu bringen? Das Leben in der Wüste war karg und ohne Freuden, außer für die wenigen Sultane und Emire, die über die Städte herrschten. Und was taten sie mit ihrer Macht? Sie knechteten ihr Volk. Sie ließen die Bürger von Varant gegeneinander kämpfen in immer neuen Kriegen, sodass sich der Sand rot färbte von ihrem Blut. Der Handel konnte nicht florieren auf diese Weise. Und wenn doch Karawanen zwischen den Siedlungen hin und her zogen, dann mussten sie fürchten, von räuberischen Nomaden überfallen zu werden. Oder aber sie gerieten in schreckliche Sandstürme und gingen am Ende ohne Wasser und ohne Orientierung unter Innos‘ Fluch zugrunde.

Schaue dich nur um, was der große Zuben aus uns gemacht hat! Er hat die Reiche der Wüste geeint und die Kriege beendet. Er hat aus uns ein großes und starkes Volk geformt, so mächtig, dass wir sogar beinahe das große Myrtana in die Knie gezwungen hätten. Und während die Macht des alten Reiches heute gebrochen ist, nimmt unsere stetig zu. Und mit unserer Macht auch unser Reichtum. Ja, Sohn der leeren Taschen, ich habe dich nach meinem Gold schielen sehen. Ich habe gesehen, wie dir die Augen übergehen angesichts des Reichtums meiner Minen. Nur zu, weide dein Angesicht! Nur pass auf deine Finger auf. Aber nein, nein, ich würde einem Dieb nicht die Hand abhacken lassen. Diese barbarischen Zeiten sind dank Zuben vorbei. Welchen Nutzen hat ein Einhändiger? Als Sklave in den Minen hättest du mehr Wert. Ja, die Minen sind der Quell des Reichtums. Bei euch im Norden fürchtet man Beliar als den Herrn des Todes. Aber Beliar ist auch der Gott der Erde. Und er ist der Gott von allem, was darin ruht. Der Edelsteine und der Metalle. Glaubst du, es ist Zufall, dass das Gold, das all die Zeiten in diesen Bergen ruhte, erst in den Tagen Zubens gefunden wurde? Er bringt uns den Segen Beliars. Und dafür erweisen wir ihm unsere Verehrung.

Aber ein Geschenk Beliars ist noch wertvoller als der Reichtum, den er uns beschert. Überraschen dich diese Worte aus meinem Munde, Sohn der wenigen Worte? Ja, Beliar gab uns das Gold. Doch vor allem gab er uns die Freiheit. Beliar ist der Gott des Todes und der Zerstörung, aber in Wahrheit ist er ein Gott des Lebens, weil ohne Tod und Zerstörung, ohne Chaos und Wandel nichts sein und nichts werden kann. Der wahre Tod ist die leblose Ordnung Innos‘. Innos will jeden Menschen zum Knecht. Unter Beliar ist jeder sein eigener Herr – solange er nur den Herrn aller Herrn über sich erkennt. Du glaubst mir nicht? Du schaust auf die Sklaven und zweifelst an der Freiheit, die heute in Varant herrscht? Aber siehe, Zuben hat verfügt, dass niemand mehr als Sklave geboren werde. Jeder ist zunächst ein freier Mann. Alle Sklaven, die du hier siehst, haben ihre Freiheit selbst verwirkt. Jeder Mensch ist nun seines Glückes Schmied. Früher herrschten die Sultane und Emire über Varant und dann wieder ihre Söhne und deren Söhne. Heute kann jeder, der nur ein Vater der List ist und gute Geschäfte macht, es bis zu einem Statthalter bringen, so wie ich! Gewiss, Zuben herrscht über uns alle. Aber er ist kein Despot wie der König des Nordens, dessen Fürsten bloß seine Handlanger sind und der überall seine Richter und königlichen Beamten hat. Jede Stadt Varants ist heute frei. Jeder Statthalter herrscht nach seinem eigenen Ermessen. Zuben ist weit weg in Ishtar und wendet seinen weisen Blick auf höhere Dinge als unsere weltlichen Belange. Er hält seine schützende Hand über uns, er hält Beliars Zorn von uns fern, doch er überlässt uns selbst, solange wir ihm und Beliar den Tribut zollen, der ihnen rechtmäßig gebührt.

Ja natürlich, Beliar ist ein zorniger Gott. Beliar ist grausam und unerbittlich gegen seine Feinde! Aber nur gegen diese. Wie Zuben ist er gütig und freigebig gegen jene, die ihn anerkennen. Für Beliar die Herrschaft, für uns den Reichtum! Schau dir an, was die Diener der anderen Götter für ein elendes Leben führen. Sie verlangen Entsagung und Askese. Weshalb, frage ich dich? Ist das Leben nicht da, um gelebt zu werden? Sind sein Reichtum, seine Fülle nicht da, um genossen zu werden? Dich gelüstet nach den süßen Früchten unserer Oasen? Nur zu, pflücke sie! Dich gelüstet nach dem Schoß unserer Sklavinnen? Nur zu, lass dich von ihrem Tanz verzaubern! Völlerei und Wollust sind keine Sünden unter einem gütigen Gott wie Beliar. Wir kennen kein Fasten, keine Keuschheit, wir verdammen nicht den Rausch des Sumpfkrauts. Mache gute Geschäfte, gib Beliar und seinem Propheten, was das ihre ist, und auch du wirst dich auf seidene Kissen betten und ein Leben der Wonne genießen können wie ich.

Du bist nicht überzeugt? Wahrlich, du musst der Vater des Zweifels sein! Rührt dich etwa das Schicksal der Nomaden? Dieser Wilden, die sich in braune Lumpen hüllen, die in Höhlen leben und nach dem Schweiß ihres Viehs stinken? Haben sie es sich nicht selbst zuzuschreiben? Haben sie nicht wieder und wieder unsere Karawanen, unsere Oasen überfallen? Zuben ist kein grausamer Herr. Jeder kann vor ihm das Knie beugen und leben. Aber diese störrischen Nomaden wollen seine Herrlichkeit nicht anerkennen – für sie kann es nur den Tod und die Fesseln geben. Und dein König? Seine Soldaten kamen in unser Land, plünderten unsere Städte, schändeten unsere Frauen, verübten Grausamkeit über Grausamkeit. Und dann ließ er die großen Mauern und die Häfen unserer Städte schleifen. Er verbot uns den auswertigen Handel, sodass nur noch seine eigenen Kaufmänner vom Reichtum Varants zehren konnten. Nicht einmal mehr Waffen durften wir tragen. Aber Beliar erhörte unser Klagen. Er sandte Zuben zu uns zurück. Er gab uns die Würde, die Freiheit und den Reichtum und nun gehen wir einer goldenen Zukunft entgegen.

Und du, Sohn des Nordens? Du kannst ein Teil dieser Zukunft sein! Für uns den Reichtum, für Beliar die Herrschaft, für seine Feinde den Tod!

– Sancho, Statthalter von Ben Erai

 

Lass dir von den Assassinen nichts erzählen, Junge.

Sei doch kein Dummkopf! Sie werden nicht müde, sich ihrer eigenen Verschlagenheit zu rühmen. Hör sie doch nur reden! „Ein Assassine setzt nie auf nur einen Arenakämpfer“, „Die erste Waffe eines Assassinen ist seine Zunge, die zweite sein Gift, erst die dritte sein Schwert“, „Wo andere mit Gewalt herrschen, da herrschen die Assassinen mit List“. Sag doch selbst: Sollte man jemandem, der so daherredet, Glauben schenken?

Lass dir die Wahrheit sagen von einem, der lange genug gelebt hat, um sie zu kennen. Ich weiß noch, wie es in den alten Zeiten war, Junge, damals, vor Zuben. Ich habe ihn aufsteigen und fallen und wieder aufsteigen sehen. Es war nicht alles gut damals, gewiss nicht. Aber es war auch nicht alles so schlecht, wie sie es dir heute weismachen wollen.

Die Emire und die Sultane von damals waren nicht immer gerechte Herrscher. Aber die Raffgier der Händler haben sie immerhin im Zaum gehalten! Sieh dich einmal heute um. Jetzt sind es Kaufmänner, die die Städte beherrschen. Glaubst du, ihre Macht rührt daher, dass sie so fähige Regenten sind? Erkauft haben sie sich ihre Ämter! Und sie verschwenden keinen Gedanken an das Wohl ihrer Städte. Ein jeder von ihnen presst die seine aus, beutet seine Untertanen aus, bereichert sich am Handel und den Minen. Und alle konkurrieren sie miteinander. Das ist es, was der Glaube dieser Frevler lehrt! Selbstsucht und Habgier. Jeder ist sich heute selbst der Nächste. Keiner gönnt dem anderen auch nur die Butter auf dem Brot. Und ihr großer Zuben? Der sieht von Ferne seelenruhig zu, wie diese Geier einander die Augen aushacken. Ha, und die Narren rühmen ihn noch dafür, dass er ihnen angeblich solche Freiheit lässt. Ja, eine schöne Freiheit ist das, die Freiheit, sich gegenseitig auszuplündern! Glaubst du, Zuben lässt seine Untergebenen aus reiner Menschenliebe schalten und walten? Er ist gerissen, die alte Schlange! Er weiß, wenn er mit härterer Hand herrschte, würde er auf Dauer nur Aufstände provozieren. So aber wetteifern alle, die ein bisschen Macht haben in diesem Land, untereinander und keiner kann je stark genug werden, um ihm gefährlich zu werden.

Ich habe es einmal gesagt und ich sage es dir wieder: Frevler sind diese Assassinen, allesamt. Früher, da haben die meisten Menschen in Varant Adanos verehrt. Adanos ist ein gütiger Gott. Er lehrt uns Mäßigung und Fleiß. Er lehrt uns die Bedeutung des Gleichgewichts. Dass wir unser Leben genießen, aber auch unsere Pflichten tun sollen. Er zeigt uns den Wert jedes Lebens, und dass wir auch an unseren Nächsten gedenken sollen. Und er bringt uns das Leben selbst durch sein Wasser! Die Assassinen werden dir viel vom kühlenden Schatten Beliars vorschwärmen, aber es ist das Wasser, das uns hier in der Wüste das Leben bringt, und auch sie müssen trinken. Hast du mal gefragt, was denn die große Lehre ist, die ihnen ihr Prophet statt des alten Glaubens gebracht hat? Diese Assassinen verehren in Beliar nur zwei Dinge: Dass er ihnen die Freiheit und dass er ihnen den Genuss des Lebens beschert habe! Ja, frei sind sie jetzt. Frei von Skrupeln. Frei von Sittlichkeit. Moral und Anstand sind für sie doch nur noch die Vorurteile alter Leute. Sie predigen, dass nur Stärke und Gerissenheit zählen und dass es kein Recht gibt außer dem, das man sich nimmt. Und Genuss, das ist alles, wofür sie leben. Sie kennen keine höheren Ideale, nur die diesseitigen Freuden. Treiben Unzucht mit den Sklavinnen, verwetten all ihr Gold bei den Arenakämpfen, berauschen sich am Sumpfkraut – ja ja, Junge, geh nur mal nach Lago, es ist gar nicht weit, schau dir an, was aus diesem Dorf geworden ist, wie sie alle nur noch rauchend im Schatten liegen und dummes Zeug schwatzen, dann siehst du, was Zubens falscher Glaube aus den Menschen macht.

Und lass dich doch von ihrem Gerede über Freiheit nicht irre machen. Ja, Zuben hält die Zügel seiner Statthalter locker. Aber glaub mir dies eine, er zieht sie sehr schnell an, wenn es ernst wird. Er mischt sich nicht in ihre kleinen selbstsüchtigen Händel. Aber warum sollte er auch? Aber frei ist hier in Varant schon lange keiner mehr. Der wahre Herr ist immer Zuben, nicht die Statthalter. Überall hat er seine Schergen. Schau sie dir an, diese jungen Assassinen. Ausgebildet in Ishtar, das niemand betreten darf, der keiner von ihnen ist. Die Götter allein wissen, wie Zuben sie sich dort gefügig macht. Und dann entsendet er sie in alle Winkel des Reiches. Um den Statthaltern zu dienen? Ha! Um seine Augen und Ohren und Hände zu sein. Hier in Ben Erai kann ich noch frei sprechen. Aber geh einmal nach Bakaresh oder Mora Sul. Niemand wird dort wagen, den Mund aufzutun. Keiner weiß, ob nicht der eigene Nachbar, der eigene Bruder im Geheimen ein Assassine ist. Und Verrat ist für diese Frevler eine Tugend und wird gut entlohnt. Ich sage dir, Zuben hat aus uns ein Volk von Spitzeln und Denunzianten gemacht. Und auf die Spitzel und Denunzianten folgen die Meuchelmörder. Und wenn sie dir sagen, jeder hätte selbst in der Hand, wie weit er es bringt, dann meinen sie damit höchstens jeden, der zu ihnen gehört. Du zweifelst an dem, was ich sage? Dann schau doch einmal, welche Händler die besten Geschäfte machen, und dann frage sie, ob sie zu den Assassinen gehören. Nur Assassinen dürfen Ishtar mit Gütern beliefern. Nur Assassinen erhalten das Recht, die Brunnen zu betreiben. Nur Assassinen können sich eine Statthalterschaft erkaufen. Nur Assassinen werden zu Arenaleitern ausgewählt. Die gemeinen Leute können an ihrem Los nicht viel ändern. In Wahrheit werden sie ärmer und ärmer. Die Straßen von Mora Sul sollen heute voll von Bettlern sein. Und wen wundert’s? Es gibt keine Arbeit mehr. Sieh mich an, Jahrzehnte habe ich hier in den Minen geschuftet. Und heute? Heute arbeiten dort nur noch Sklaven. Ja, es gab schon immer Sklaven, aber heute scheint halb Varant in Ketten zu liegen, während die andere Hälfte deshalb am Hungertuch nagt!

Und am Ende können sie all ihre Freiheit und all ihren Reichtum ohnehin vergessen. Dem Kriegstreiber Zuben geht es nur um eines: Die Ausweitung seiner Macht. Die meisten, die ihm heute folgen, sind jung. Groß geworden unter Rhobars Besatzung. Ja, dein Volk hat manche Grausamkeit unter uns verübt und es gibt viel böses Blut, Nordmann. Aber diese jungen Burschen haben vergessen, dass wir es waren, die Myrtana überfielen. Sie und ihre Familien mussten für Zubens Größenwahn den Preis zahlen und jetzt verehren sie ihn als großen Befreier! Aber sie werden sich noch wundern. Die Nomaden waren jahrelang friedlich. Jetzt überfallen sie wieder unsere Karawanen. Glaubten diese Narren etwa, sie würden es sich ruhig gefallen lassen, wenn man Jagd auf sie macht? Und das ist erst der Anfang. Ich wette mit dir, mein Junge, Zuben hat sein Auge schon wieder nach Norden gerichtet. Ob der König oder die Orks dort herrschen, das ändert an seinen Plänen nichts. Er rüstet gewiss schon für den nächsten Krieg. Und wenn der wieder verlorengeht und wir wieder ins Elend gestürzt werden, dann sollen sie sich nicht wundern!

Nein, Junge, lass dir von den Assassinen nichts erzählen.

– Fatih, ehemaliger Minenarbeiter in Ben Erai