„Habe ich dir schon den Saphir gezeigt, den Nahur mir geschenkt hat?“
„Ja, Meryam. Schon dreimal.“
„Schau, hast du jemals so einen großen Edelstein gesehen? Ist er nicht wunderschön? Aber seine Schönheit…“
„… verblasst vor deiner, das hat Nahur gesagt. Hast du mir schon erzählt. Dreimal.“
„Schau doch, wie er in der Sonne funkelt. Bestimmt hat der Händler, den Nahur überfallen hat, ein Vermögen dafür gezahlt.“
Ankyor verzog das Gesicht. Wann würde sie denn endlich Ruhe geben?`Er zeichnete mit dem Finger Linien in den Sand, während sich die beiden Frauen neben ihm unterhielten. Sofern man das denn eine Unterhaltung nennen konnte. So gut es eben ging, versuchte er, wegzuhören.
„Ah, Sulamith, da bist du ja!“
Bei der Nennung dieses Namens schoss Ankyors Blick sofort in die Höhe. Ja, da kam sie! Einen Krug auf dem Kopf, den sie mit einer schlanken Hand abstützte. Ihr Haar zitterte leicht in dem sanften Wind, der von den Dünen herabblies; diese wundervollen dunklen Locken, die er so gerne nur einmal zwischen seinen Fingern spüren würde. Und in ihrer Mitte das schönste Gesicht, das er kannte. Wie immer blickte Sulamith freundlich und lächelte sanft. Und wie immer konnte er nicht anders, als bei diesem Anblick ebenfalls zu lächeln. „Ich bringe Wasser.“
„Gut. Komm, lass uns gehen. Du wolltest mir beim Melken helfen.“ Meryams offensichtlich erleichterte Gesprächspartnerin nahm Sulamith am Arm und begann, sie mit sich zu ziehen. „Deine Schwester hat mir gerade wieder von ihrem Lieblingsthema erzählt.“
„Oh.“ Die Traurigkeit, die in Sulamiths Blick trat, versetzte Ankyor einen Stich. Sie galt nicht ihm, das wusste er. Als sie ihr Gesicht abwandte und dabei in seine Richtung drehte, schaute er aber rasch wieder zu Boden, zu seinen Linien.
„Du könntest dich ruhig ein bisschen für mich freuen!“, hörte er Meryam keifen.
„Das tue ich. Wirklich, Meryam, ich freue mich sehr, dass…“
„Spar dir die Heuchelei! Ich weiß genau, dass du mir mein Glück nicht gönnst!“
Ankyor wurde wütend. Wut war ein Gefühl, das er in letzter Zeit öfter verspürte. Hilflose Wut. Gerne wäre er hinüber gegangen und hätte Meryam zurechtgewiesen, dass sie so mit Sulamith nicht reden durfte. Aber wie hätte das ausgesehen?
„Ah, finde ich euch beide auf einmal. Gut.“ Ankyor blickte wieder auf. Diese Stimme gehörte Ayitos. Was tat er hier? Auch Meryam und Sulamith und ihre Freundin schauten den Hinzugetretenen überrascht an.
„Vater.“ Sulamith senkte respektvoll das Haupt. „Was können wir für dich tun?“
„Ihr könnt für mich beten. Für mich und die anderen, die mit unserem Scheich gehen werden.“
Sulamith schlug die Hände vorm Mund zusammen. Auch Meryam wirkte verunsichert. „Gehen? Wohin, Vater?“, fragte sie.
„Nach Braga. Heute Nacht.“
Ankyor horchte auf. Nach Braga? Wieso wusste er davon nichts?
„Ihr werdet die Stadt angreifen?“, fragte Meryam. „Aber ich dachte, wir brechen das Lager ab und ziehen weiter.“
„Das tun wir auch. Aber wir tun das, weil die Sippe hier ab morgen nicht mehr sicher sein wird. Wir werden die Stadt nicht angreifen, aber wir werden in das Haus ihres Anführers eindringen. Wir werden sein Gold rauben und seine Sklaven befreien. Und wir werden Tufail im Schlaf töten, wenn wir können. Dein Verlobter wird auch mit uns kommen, Meryam.“
Ankyor sprang auf und rannte los. Erst nach einigen Schritten kam ihm in den Sinn, dass das vielleicht seltsam wirken oder offenbaren könnte, dass er gelauscht hatte. Aber da war es schon zu spät. Der Gedanke brachte ihn kurz ins Stolpern, als sein Fuß gegen einen kleinen Stein stieß, aber er fing sich sofort und rannte weiter.
Keuchend platzte er in das Zelt seines Vaters.
Asaru blickte auf. Die anderen Männer, die mit ihm im Kreis saßen, taten es ihm gleich. Ankyor stockte, als der strenge Blick seines Vaters sich auf ihn richtete. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte der Scheich.
„Äh… Ich…“ Erst jetzt, nach einigen Augenblicken, wurde Ankyor so recht klar, wo er sich befand und wem er gegenüber stand. Rasch neigte er das Haupt. „Verzeih, Vater. Ich habe gehört, es wird einen Überfall auf Braga geben.“
„Das ist richtig. Und?“
„Ich…“ Er schluckte, räusperte sich, schluckte noch einmal. „Warum hat mir keiner etwas davon gesagt?“, platzte es dann aus ihm heraus.
„Weil es keinen Grund dazu gab“, antwortete der Scheich. „Nun geh. Wir sind gerade dabei, unseren Plan zu besprechen.“
Er blickte sich um. Da saßen seine beiden ältesten Brüder. Da saß Marus. Und dort, Nahur. Ankyor biss sich auf die Lippen. „Kommen sie alle mit?“
„Ja. Deshalb sind sie hier.“
„Ich will auch mitkämpfen!“
„Junge, dein Tatendrang ehrt dich, aber begehe keine Torheit“, ließ Marus sich vernehmen.
Die Brauen seines Vaters zogen sich derweil zusammen. Ein Anflug von Ungeduld trat in sein Gesicht. „Hätte ich dich mitnehmen wollen, hätte ich dich rufen lassen. Wie deine Brüder.“
„Aber Vater, ich kann kämpfen! Genau wie sie!“
„Wir werden uns bei Nacht mitten in die Stadt des Feindes schleichen. Alles muss schnell gehen. Und wenn wir entdeckt werden, werden wir um unser Leben kämpfen müssen. Ich werde niemanden mitnehmen, der noch jung und unerfahren ist.“
„Aber…“
Die Ungeduld im Gesicht Asarus schien sich langsam in Zorn zu wandeln. „Willst du dich gegen die Entscheidung deines Scheichs stellen? Gegen die Entscheidung deines Vaters?“
„Ich… Nein… Aber…“ Ankyor senkte das Haupt. „Verzeih mir, Vater, ich war respektlos. Es ist nur…“ Sein Blick streifte abermals Nahur, der im Schneidersitz neben einem seiner Brüder saß. „Ich will mich beweisen. Ich will auch etwas für die Sippe tun.“
„Dann kümmere dich um die Herde. Wir werden morgen bei Tagesanbruch aufbrechen. Zu den Bergen. Nach unserem Überfall auf die Stadt wird die Sippe nicht mehr in dieser Oase so dicht bei Braga bleiben können. Du willst etwas tun? Dann hilf mit, auf die Tiere aufzupassen.“
„Aber…“
„Hinaus jetzt! Du hast uns lange genug belästigt. Widersprich mir besser kein weiteres Mal.“
Ankyor zitterte vor Wut, als er das Zelt verließ. Hilflos ballte er die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder, ballte sie wieder zusammen. Seine Brüder durften kämpfen, aber er, er war zu jung! Bei dem Überfall auf den Händler bei Ben Erai war er auch nicht dabei gewesen. Dort hatte Nahur diesen Saphir erbeutet, den er inzwischen Meryam zu ihrer Verlobung geschenkt hatte. Adanos wusste, was Nahur diesmal erbeuten oder mit welcher Heldentat er sich hervortun würde!
Er versuchte, sich selbst zu beruhigen. Es war egal, was Nahur aus Braga mitbrachte. Er würde wohl kaum auch noch um Sulamiths Hand anhalten. Zumindest nicht, solange er Meryam noch nicht geheiratet hatte…
Aber dennoch! Wieder ballte er die Fäuste zusammen. War es denn ein Wunder, dass Sulamith nur Augen für Nahur hatte, selbst nachdem er Meryam auserkoren hatte? Im ersten Moment hatte Ankyor sich gefreut gehabt. Es war ein offenes Geheimnis in der Sippe, dass beide Töchter Ayitos’ ein Auge auf Nahur geworfen hatten. Und eine Zeit lang hatten die Weiber beim Melken und Wasserholen über nichts anderes getratscht als darüber, wen Nahur wohl erwählen und wem er diesen Saphir schenken würde, den er erbeutet hatte. Nächtelang hatte Ankyor kaum schlafen können vor Sorge, seine Sulamith zu verlieren. Aber dass Nahur Meryam am Ende vorgezogen hatte – eine Entscheidung, die Ankyor, so froh er über sie war, niemls würde nachvollziehen können –, war nur kurz eine Erleichterung gewesen. So lange, bis er die Enttäuschung und den Schmerz in Sulamiths Gesicht gesehen hatte.
Wenn er nur auch ein großer Krieger und Jäger wie Nahur wäre! Wenn er auch Snapperhäute und erbeutete Schätze mitbringen könnte. Sulamith würde Nahur schon vergessen, erst recht jetzt, wo er sich ihrer Schwester zugewandt hatte. Aber so, wie sollte sie ihn so auch nur beachten?
Den Rest des Tages brütete er über seinen dunklen Gedanken. Er half mit, die Herde der Sippe zusammenzutreiben und für den Abmarsch bereit zu machen. Nach und nach wurden die Zelte rings um die Oase abgebaut. Kisten, Vasen und Fässer wurden gestapelt. Alles lief geschäftig hin und her. Er selbst erledigte seine Aufgaben mechanisch, ohne seinem eigenen Tun wirklich Beachtung zu schenken.
Dann brach die Nacht herein und Asaru und die von ihm ausgewählten Männer brachen zur nahen Stadt der Assassinen auf. Gespannte Erwartung, gemischt mit Furcht herrschte im ganzen Lager. Riordian, ihr Abu, der gerade erst nach so langen Jahren zu ihnen zurückgekehrt war, leitete ein Gebet. Ankyor aber konnte nur an Sulamith denken. An Nahur, an seinen Vater. Daran, dass er hier saß, in der sicheren Oase und nichts tun konnte, um zu zeigen, dass auch er kämpfen, dass auch er die Sippe verteidigen konnte.
Asaru und seine kleine Schar kehrten in der Stunde vor dem Morgengrauen zurück. Ihr Überfall war ein voller Erfolg gewesen. Zwar waren sie nur ins untere Stockwerk des Haupthauses eingedrungen und hatten Tufail den Stadtherren dort nicht vorgefunden, aber sie hatten eine große Menge Gold geraubt und eine Sklavin befreit, eine Frau namens Aila. Die Männer und Frauen der Sippe feierten ihre Helden, aber Asaru unterband den Jubel und das Umarmen rasch, denn nun sei keine Zeit zu verlieren, sondern Eile geboten. Ankyor war ohnehin nicht nach feiern zumute gewesen und er hatte sich nur am Rande der Menge gehalten, die die heimkehrenden Krieger und die befreite Sklavin umringt hatte.
Hätte Vater ihn doch nur mitgenommen! Er hätte sich alleine ins obere Stockwerk geschlichen und den Herrn von Braga in seinem Bett erdolcht. So dachte er, während die Beni Asaru langsam gen Westen zogen und die ersten Strahlen der Sonne über die Berge des Ben Hasha krochen. Den dicken Ast, der ihm als Hirtenstab diente, hatte er über die Schulter gelegt, den Blick zu Boden gesenkt. Den Rindern, die neben ihm einhertrotteten, schenkte er kaum Beachtung. Seine Gedanken kreisten um Braga. Wenn man ihm doch nur eine Chance gegeben hätte. Er hätte allen gezeigt, was in ihm steckte. Er hätte Sulamith bewiesen, dass nicht nur Nahur ein furchtloser Kämpfer war. Natürlich hätte Vater ihm niemals erlaubt, die Treppe ins obere Stockwerk hinaufzusteigen, selbst wenn er ihn mitgenommen hätte. Er hätte zur Vorsicht gemahnt und den Rückzug befohlen. Aber dort hätte er ihn dann nicht mehr zurückhalten können. Er wäre einfach hinaufgestürmt und sein Erfolg hätte ihm am Ende Recht gegeben. Er hätte getan, was offenbar keiner der anderen, auch Nahur nicht, sich getraut hatte. Wie schwer konnte es schon sein, einen Mann im Schlaf zu töten? Aber vielleicht, schoss es ihm durch den Kopf, vielleicht hätte Tufail gar nicht geschlafen. Vielleicht hätte der Herr von Braga ihn erwartet, ein verschlagenes Grinsen im Gesicht. Waren nicht alle Assassinen verschlagen? Aber sei’s drum! Er hätte ihn getötet, ob nun schlafend oder wachend! Wenn Vater ihm doch nur die Möglichkeit dazu gegeben hätte, er hätte Tufail im Kampf besiegt. Ankyor wusste nicht, wie der Herr von Braga aussah. Wahrscheinlich war er groß. „Hey!“ Ja, groß und stark. Schließlich machten die Assassinen nur die besten der ihren zu ihren Anführern. Bestimmt überragte dieser Tufail all seine Wachen um mindestens einen Kopf. Und das verschlagene Lächeln, mit dem er Ankyor erwartet hätte, wäre es nicht mehr als das gewesen? Ja, grausam, nicht bloß verschlagen, so war sein Lächeln. Das Lächeln eines Mannes, der schon unzählige Nomaden getötet hatte. Und der es genossen hatte. „Ankyor!“ Und seine Augen… Bestimmt hatte er die flammenden Augen eines Dämons! Immerhin war er ein Assassine, ein Diener der Schwarzmagier, wer konnte sagen, mit welchen Kräften er sich eingelassen hatte? „Pass auf! Dort!“ Aber Ankyor hätte sich nicht einschüchtern lassen, wenn er diesem riesigen Dämon in Menschengestalt gegenübergestanden hätte. Er hätte ihm die Stirn geboten. Hätte gezeigt, wie ein Nomade zu kämpfen vermochte! „Hey, Ankyor, schau doch hin!“
Die Stimme eines der anderen Hirtenjungen, der auf der anderen Seite des Zuges einherging, schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er blickte erst verwirrt über die Rücken der Tiere zu ihrem Urheber. Der aber deutete mit der Hand wild in die andere Richtung. Ankyor folgte mit den Augen dem Finger des anderen und da sah er es: Eines der Rinder war aus der Herde ausgeschert und riss nun mit den Zähnen an einer Wurzel, die einsam im Schatten einer verfallenen Mauer wuchs. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie bereits den Rand des Ruinenfelds erreicht hatten.
Schnellen Schrittes ging er auf das Tier zu, um es zum Rest der Herde zurückzuführen. Da bewegte sich plötzlich etwas in einem Torbogen. Im nächsten Moment ertönte ein verzweifelter Schrei, als sich Zähne ins Bein der Kuh bohrten.
Ankyor stolperte zurück. Aber der Waran hatte ihn schon erblickt. Ein Glück für das Rind, das davonhumpelte, so schnell sein blutendes Bein es erlaubte. Kein Glück für ihn. Langsam und dabei bedrohlich zischend näherte sich die große Echse. Ankyor hob schützend seinen Ast vor die Brust und stellte erschrocken fest, dass seine Hände zitterten. Nun stand der Waran direkt vor ihm. Ein schneller Satz und das Ungetüm wäre bei ihm und würde die Zähne in ihn schlagen.
Ein Speer sauste von rechts an seinen Augen vorbei. Der Waran zischte wütend auf und schnellte zur Seite. Die Wucht dieser Bewegung entriss den Speer, der in der Haut des Tieres steckengeblieben war, seinem Träger, der sofort einen Satz nach hinten machte. Aber schon war der Waran bei ihm. Ohne auf die Waffe, die noch immer aus seinem Rücken ragte, Rücksicht zu nehmen, stürzte er sich auf seinen Angreifer. Der jedoch hatte schon ein Schwert aus seiner Scheide gerissen. Die Klinge blitzte für einen Moment im Licht der Sonne auf. Blitzte, wie es Meryams Saphir getan hatte. Ankyor konnte selbst nicht sagen, warum er in diesem Moment an den Edelstein zurückdachte. Aber im nächsten Augenblick war es vorüber.
„Ist alles in Ordnung?“
Ankyor blickte von dem abgetrennten Kopf des Warans empor zu dem Mann, der nun vor ihn trat, dann hinab zu der Klinge in seiner Hand, die nun nicht mehr funkelte und auch keinem Saphir mehr glich, sondern rot war wie ein Rubin, dann wieder hinauf ins Gesicht seines Gegenübers.
„Äh, ja… Ja, alles in Ordnung…“
„Ein Glück. Hier bei den Ruinen musst du vorsichtig sein.“ Nahur wies mit dem Schwert auf die Mauern hinter ihnen. „Komm, sehen wir nach dem Rind.“
Die Wunde im Bein des Tiers war nicht tief. Es würde nicht daran sterben. Und mit Adanos’ Hilfe würde es sogar den Rest des Marsches überstehen. Aber der Biss eines Warans barg noch andere Gefahren. Krankheiten. Und ihr Abu, der dem mit seinen Tränken hätte Abhilfe können, war nicht mehr bei ihnen. Das war Ankyor bei ihrem Aufbruch völlig entgangen, aber aus irgendeinem Grund war der Wassermagier zurückgeblieben und würde erst in einiger Zeit wieder zur Sippe stoßen. Und gerade jetzt musste eines der Tiere von einem Waran gebissen werden!
Scheich Asaru war nicht begeistert. Aber Ankyor konnte nur an eines denken, während sein Vater seiner Wut freien Lauf ließ: Hätte er nur einen Speer gehabt wie Nahur, statt solch eines wertlosen Stückes Holz, er hätte den Waran selbst erlegt, noch ehe er das Rind hätte anfallen können! Und er schwor sich eines: Er würde sich einen Speer beschaffen. Und er würde seinen Wert unter Beweis stellen. Sodass Vater ihn mitnehmen würde, nein mitnehmen musste, wenn sie das nächste Mal gegen die Assassinen kämpften!