Nacht der Langfinger
Etwas Gutes hatte die momentane Herrschaft der Orks, grübelte Lares, während er den Wehrgang mit pflichtbewusster Mine auf voller Länge abschritt. Zu den Zeiten der Feuermagier hätte er es nicht gewagt, sich den Kostbarkeiten im Inneren des Tempels zu nähern. Magier waren recht paranoid, wenn es um ihre Tempelschätze ging. Manch unglücklicher Novize war dazu verdonnert worden, tagelang stoisch vor Reliquien zu wachen. Da hätte man selbst schon Zauber beherrschen müssen, um Beute zu machen.
Zwei Orks kamen Lares entgegen, ihre gewaltigen Kampfäxte lässig auf den Schultern tragend. Der Wachwechsel, auf den der Dieb gewartet hatte, war also im Gange. Die Krieger ignorierten den Gruß, den er ihnen im Vorbeigehen zuwarf, und stiegen von der Mauer herab.
Keine der Orkwachen störte seine Anwesenheit hier oben, denn die letzten Tage war Lares jeden Abend zum Wachwechsel im Wehrgang erschienen, um Patrouille zu laufen. Jedenfalls hatte er sie das glauben lassen, solange bis sie sich an ihn gewöhnt hatten. Mit den Milizsoldaten zu Zeiten der Magier wäre diese Art der Finte unmöglich gewesen. Damals wäre er ohne einen schriftlichen Befehl wahrscheinlich direkt von der Mauer geflogen. Ganz abgesehen davon, dass er sich aus Prinzip niemals freiwillig einen Waffenrock der Miliz angezogen hätte. Mit der Rüstung eines Orksöldners sah es da schon ganz anders aus. Zumal die meisten Orks ohnehin kein Auge für ihre Söldner hatten – für sie sahen bis auf wenige Ausnahmen Menschen einfach gleich aus.
Lares war inzwischen am Ende des Wehrgangs angelangt. Hier mündete die Mauer in eine hochgelegene Grünfläche, die früher sicherlich der Kräutergarten des Tempels gewesen sein musste. Von dort aus gedachte er, über den unbewachten Seiteneingang Zutritt zum Gotteshaus zu erhalten.
Er selbst hatte dafür gesorgt, dass die zweite Schicht der Wache an diesem Zugang heute nicht zum Dienst antreten würde. Während seiner vorgetäuschten Patrouille hatte sich der Langfinger geflissentlich die Dienstpläne der Wachposten eingeprägt. Dem Seiteneingang war um diese Zeit nur ein einzelner Orkkrieger zugeteilt. Um ihn auszuschalten, hatte Lares nur seine Trinkfestigkeit infrage stellen und ihn so bei seinem Stolz packen müssen. Am Ende hatte der Wachposten sich überschätzt.
Stollengrollen konnte selbst einen Ork umhauen.
Für heute Nacht sollte ein immenser Kater es dem Krieger unmöglich machen, auf seinem Posten zu erscheinen. Der ehemalige Bandit hatte heute Abend also freie Bahn.
Sich duckend, durchquerte er den Eingang und passierte das Schlafgemach der Schamanen. Dabei ging er gänzlich lautlos zu Werke, so dass allein ihr Schnarchen den Raum erfüllte.
Mit einem kurzen Blick durch die Tür zum Hauptgang versicherte sich Lares, dass die Luft rein war. Normalerweise durchquerte eine einzelne Wache den Hauptkorridor zwischen Eingang und Saal. Der Dieb hatte fest damit gerechnet, im Rücken dieser vorbeizuschlüpfen. Doch da war niemand. Vor dem Tempel allerdings veranstaltete eine Gruppe Sklaven Tumult, indem sie aufeinander einschlugen. Offensichtlich waren die Tempelwachen dort gebunden. Eine nette Ablenkung, die sich jedoch als zweischneidiges Schwert für Lares erweisen konnte. Sobald der Tumult die Schamanen wachrütteln würde, wäre sein Fluchtweg abgeschnitten.
Andererseits konnte er hier nicht einfach abbrechen. Sein Ziel lag viel zu nah, denn er hatte nicht vor, planlos in den Tempelgütern zu wühlen, sondern es fest auf die sechs goldenen Schalen der Alchemisten abgesehen. Zu Zeiten des Königs waren diese Schalen einst in ganz Geldern verteilt gewesen. Es handelte sich um Auszeichnungen für die besten und einflussreichsten Alchemisten der Stadt. Nun hatte er die Chance, die komplette Sammlung auf einmal zu stehlen, denn die Orks hatten sie alle in den Tempel bringen lassen.
Mit zügigen Schritten näherte sich der Dieb dem großen Saal, in dem der Schamane Grok tagsüber residierte. Merkwürdigerweise lag der gesamte Raum gänzlich abgedunkelt vor ihm, keine brennende Kerze oder entzündete Feuerschale. Seine Augen mussten sich erst an den Umstand gewöhnen. Allein einige wenige Sterne, die nicht vom Wolkenvorhang verdeckt waren, erhellten den Saal ein wenig, denn die Tempeldecke war an den Seiten offen.
Die ganze Sache wurde Lares immer suspekter. Er blieb geduckt und bewegte sich in einem Bogen auf die Kommode zu, auf der laut seinen Informationen von einem Sklaven, der dort zum Fegen eingeteilt war, die Schalen stehen sollten. Da fiel es dem Langfinger auf. Hing da etwa ein Seil von der Decke?
Kaum hatte er das Seil bemerkt, sah er es: Das goldene Blitzen einer Schale, die für einen kurzen Moment das Licht reflektierte, als sie bewegt wurde. Vor der Kommode zeichneten sich die kauernden Umrisse einer Gestalt in Umhang und Kapuze ab, die offensichtlich gerade die von ihr zur Beute auserkorenen Schalen aus dem Tempel entwendete. Unwillkürlich entfuhr Lares ein verdutztes Schnauben. Die Gestalt hielt inne und wandte sich ihm zu.
Der Tumult durch die sich prügelnden Sklaven war abgeklungen.
Da brach das Licht des Vollmonds gleißend silbrig durch die Wolkendecke. Einen gefühlt quälend langen Moment musterten sich beide Diebe gegenseitig. Verblüffend schnell hatte der Fremde einen Dolch gezogen, um nun gleich einer Raubkatze den Raum zu durchqueren. Natürlich musste dieser fremde Dieb Lares für eine Wache der Orks halten, die es in diesem heiklen Moment zu überrumpeln galt. Vom Tumult vor dem Tempel war indes nichts mehr zu hören, stattdessen näherten sich langsam die Stimmen ungehalten klingender Orks.
Ohne den Dolch des Fremden aus den Augen zu lassen, schlich der ehemalige Bandit rückwärts, sich einer Säule in seinem Rücken nähernd, hinter der er sich den Blicken aus dem Korridor zu entziehen suchte. Der Fremde tat es ihm mit nur einem Herzschlag Verzögerung gleich. In der von Lares abgewandten Hand hielt er noch immer den Beutel mit den Schalen. Lares wisperte ihm zu: „Nimm die Waffe runter! Ich bin aus dem selben Grund hier wie du. Ich bin ein Dieb wie du.“
Die Gestalt entspannte sich ein wenig, während sie zurückflüsterte: „Dann beweise es! Ich muss sicher sein.“
„Nimm mich mit und wir teilen uns die Schalen“, antwortete Lares hastig, sich nun zum Seil bewegend. Die Orks kamen inzwischen schon durch den Korridor.
Ohne mit der Wimper zu zucken, stieß der Fremde Lares vom Seil weg in ein krachend umstürzendes Regal, wobei er ihm zuzischte: „Falsche Antwort.“ Dann versuchte er selbst, das Seil zu erklimmen, doch jetzt war es an Lares, die eigene Haut zu retten. Die Orks im Korridor hatten den Krach bemerkt und rannten brüllend zum Saal . Es gelang Lares, die Tasche des Diebes zu packen und sie ihm zu entreißen. Dabei bekam er jedoch einen Stiefeltritt ins Gesicht ab. Scheppernd ging Lares mit den Schalen zu Boden, dabei rief er: „Hier her! Der Dieb entkommt!“
Ab da ging alles sehr schnell.
Einen Atemzug später packte einer der Orks seinen Arm und riss ihn förmlich zurück auf die Beine. Die restlichen nach oben spähenden Krieger konnten nur noch sehen, wie der fremde Dieb das Seil durchtrennte und übers Dach in die Dunkelheit verschwand. Wie von Zauberhand loderten Flammen in allen Feuerschalen auf, Wachen stürmten wieder nach draußen, versuchten den Schurken abzufangen. Überall schrieen Orks sich Befehle entgegen. Jemand hob die Schalen auf.
Lares dröhnte der Schädel, der Tritt hatte ihn ganz ordentlich erwischt. Vor ihm stand der oberste Schamane Grok, zusammen mit dem Anführer der Krieger Nemrok. Während Grok Lares nur forschend ansah, verhörte Nemrok den vermeintlichen Orksöldner: „Was machst du hier drinnen, Söldner? Was ist hier geschehen?“
„Als draußen der Tumult ausbrach, sah ich auf dem Tempeldach einen sich bewegenden Schatten. Ich dachte, ich sollte der Sache besser nachgehen und stellte hier drinnen schließlich einen Dieb. Er konnte entwischen, aber ich habe ihm vorher seine Beute abnehmen können.“
„Wieso hast du die Tempelwachen nicht alarmiert?“
„Die waren doch beschäftigt. Außerdem wollte ich keinen falschen Alarm auslösen, wenn doch nichts gewesen wäre.“
Nemrok schien zufrieden, Grok jedoch machte weiterhin einen misstrauischen Eindruck. Sie berieten sich eine Weile auf Orkisch. Wie ihnen der Langfinger so zuhörte, klang es für ihn, als würden sie seinen toten Körper gleich zu den Paladinen vors Stadttor hängen. Er hasste es, wenn er keine Gelegenheit hatte, seinem Gegenüber in die Karten zu sehen.
Da klopfte Nemrok mit seiner gewaltigen Pranke Lares plötzlich auf die Schulter, um ihn für seinen Einsatz zu loben: „Es ist deinem Eingreifen zu verdanken, dass nichts gestohlen wurde. Geh, lass dir von Samuel den doppelten Sold auszahlen! Richte ihm aus, dass wir die Wachen in und um den Tempel mit unseren Kriegern verstärken werden. Seine Söldner sollen deren Aufgaben draußen in der Stadt übernehmen.“
Lares nickte nur, dann verließ er den Tempel. Es war für ihn kaum zu fassen, dass er dieses Debakel tatsächlich überlebt hatte. Damit stand jedoch fest, dass er sich vom Tempel würde fernhalten müssen. Dennoch würde er die goldenen Schalen nicht aufgeben. Nach diesem Abend mehr denn je kreisten seine Gedanken darum, die Schalen der Alchemisten in die Finger zu bekommen.
Wer sich nun fragt, wer denn der mysteriöse zweite Dieb war und welche Folgen es haben wird, dass Lares ihm bei seinem Raubzug dazwischengefunkt hat, der darf auf das CSP gespannt sein, das ihm diese Fragen beantworten wird.